Folge 37: Keep cool?
Die Coolness hatte als Upperclass-Phänomen angefangen, verhalf aber im 20. Jahrhundert auch manch Entrechteten zu politischen Erfolgen. Als politische Protestform ist die Coolness nah am Widerstand durch Gewaltlosigkeit. Im Foto ein Protestschild der Massachusetts Woman Suffrage Association, 1915.
Nach der Wahl ist vor der Wahl und während der Wahl fragen wir uns - cool bleiben oder einmischen?
Frohen Wahltag alle miteinander. Überbrückt die Stunden bis zu den vorläufigen Ergebnissen mit uns und kommt ein bisschen runter. Wahrt eure Fassung, kühlt euer Gemüt - es hilft ja nichts! Wir sprechen über die Coolness und ihre Rückseite. Eidetisch variierend nähern wir uns der Coolness als Phänomen und einigen uns: die Coolness ist ein Habitus. Wir sprechen darüber, was das noch gleich war bzw. lassen es uns von einem berühmten Franzosen mit Abstammung aus der Arbeiterklasse, der außerdem ein fettleibiges Buch zum Thema geschrieben hat, erklären. Die Coolness hält eigentlich von der aktiven Einmischung ab und zwingt den Coolen zur Distanzierung - wir hinterfragen aber, ob es heute wirklich noch uneingeschränkt cool sein kann, sich herauszuhalten. Wir drehen und wenden unseren Gegenstand von der Stoa bis zu den ca. 5 coolsten Politikern unserer Zeit - sie zögern, sie zittern und sie hassen nicht.
Folge 36: Die enge Stirn des Ressentiments
Wird man ein Ressentiment nicht los, macht man ungefähr so ein Gesicht. Und das immer öfter und immer wieder. by Adrian Brouwer, 1636/1638
Bald wird gewählt und wir politisieren ein Gefühl
Die Bundestagswahl steht an und wiedervereint sprechen Jakob und Bruno über ein kompliziertes, relativ junges und hochphilosophisches Gefühl - das Ressentiment. Im deutschen ein Lehnwort aus dem Französischen, für das es keine wirklich adäquate Übersetzung gibt - im Französischen ein vom König des Essais, Michel de Montaigne, eigens geschöpftes Wort, bezeichnet es eine sehr genau benennbare Zusammensetzung einiger eher unangenehmer Gefühle. In der richtigen Konstellation ergibt sich als Ressentiment dann eine hochpathologische und politisch gefährliche Dynamik, die sich auch an der Wahlurne entladen kann. Damit es am 23. Februar nicht zu einer allzu destruktiv anklingenden Emotionensymphonie kommt, wollen wir euch auf die anstehende Bundestagswahl gebührend vorbereiten - soweit das philosophisch möglich ist. Wie immer gilt: Bekämpfung der Ernsthaftigkeit, auch parteipolitisch. Und das angesichts der Situation, in der wir uns BE-fin-den. Außerdem: Jakob bewirbt sich als
Sonderbeauftragter für die kommende Bundesregierung, Bruno arbeitet auf dem Friedhof. Im Hörspiel - wer hätte das gedacht - leidet ein Patient, trifft zu seinem Glück auf einen hochkreativen Therapeuten.
Folge 35: Magic Mountain Calling
Thomas Mann auch hier erzählfreudig mit dem italienischen Herausgeber Arnoldo Mondadori und inmitten einiger weiterer Italienerinnen und Italiener in Italien. © by Federico Patellani
Ein Gespräch zum 100. Jubiläum des Zauberberg
In Begleitung eines weiteren Gastes begibt sich Bruno auf eine literarische Exkursion, während Jakob in Elternzeit ist. Gemeinsam erkundet er mit einem Pfadfinder geistiger Hochebenen das mysteriöse Terrain des Zauberbergs, dem Jahrhundertroman von Thomas Mann, der just in diesen Tagen sein 100-jähriges Jubiläum feiert. Die Geschichte eines durchschnittlich begabten angehenden Schiffbauingenieurs, der seinen lungenkranken Vetter im Sanatorium “Berghof” für wenige Wochen besuchen will, um schließlich ganze sieben Jahre “dort oben” zu verweilen, ist Vieles in Einem: ein geistiges Epochenpanorama der klassischen Moderne, ein letzter Blick auf die bürgerliche Welt vor ihrem Untergang, die Vorgeschichte des ersten Weltkriegs und der intellektuelle wie libidinöse Reifungsprozess eines jungen Mannes. Hans Castorp, so der Name des Protagonisten, ist Verführungen aller Art am Zauberberg ausgesetzt: geistiger, politischer, ästhetischer und schließlich erotischer. Er ist das bürgerliche Individuum unter den Bedingungen der Moderne: ohne Bindung an tradition und Familie befindet er sich im freien Fall. Die Vernunft und die Ideale und Errungenschaften vermögen ihn nicht mehr zu erden, nachdem er seine Disposition zur Krankheit entdeckt hat. Sie öffnet ihm den Weg der Selbsterkenntnis, auf dem er nicht geradlinig wie aus Platons Höhle herausklettert, sondern auf dem er mehrfach anhält, an Abbiegungen zögert, sich umdreht, nach hinten schaut, kehrt macht und im Kreis läuft, um schließlich einen Schritt vorwärts zu machen.
Folge 34: Ausweitung der Flanierzone (mit Maxim Klusch)
Hier grüßt ein Flaneur sein weibliches Gegenstück, die Passante. Man mag es nicht glauben, aber vor nicht allzu langer Zeit war eine Frau, die alleine zu Fuß unterwegs war, ein ganz schönes Stück Emanzipation. © by Leon Scheich
Ein Gang durch die Geistesgeschichte des kultivierten Gehens
Mit einem altbekannten neuen Gast widmen wir uns der kulturärchaologischen Untersuchung eines Leitfossils der klassischen Moderne: dem Flaneur (sein andersgeschlechtliches Pendant, die Passante, ist eine eigene Folge wert). Seit der Entstehung urbaner Lebensräume in der Mitte des 19. Jahrhunderts schlendert er ziellos durch die Gassen und Straßen, die Kaufhäuser und Alleen, die Parks und Armenviertel und saugt die ästhetischen und sozialen Wahrnehmunseindrücke seiner Umwelt wie ein Schwamm Wasser auf. Wir stellen seinen lustwandlerischen Lebensstil vor ein moralisches Gericht: Bereichert und Berauscht sich sein Auge bloß an den Dingen oder hat sein Blick auch als erinnernder eine ethische Note?
Folge 33: Die (un)erträgliche Zufälligkeit des Seins
Den härtesten Job in der Zufallsbranche hat die Zeit, wie Dürer schon 1526 in diesem Holzschnitt konstatierte. Immerhin erhält sie fabelhafte Hilfe.
Von Glück und Verzweiflung
Glück ist das, was einfach so passiert und das man gut findet. Pech hingegen ist etwas, das ebenso kontingent eintritt, das wir aber doof (bis sehr beschissen) finden. Zwei wichtige Pole in jedem menschlichen Leben also: Glück und Pech. Die Summe beider Arten von zufälligen Ereignissen können wir — versucht mal, uns davon abzuhalten! — Schicksal nennen. Am Schicksal kann man nun aber auch verzweifeln. Was tun (Lenins Frage!), damit das nicht passiert? An der Lebenskunst führt kein Weg vorbei. Wir betrachten sie einmal von einer anderen Warte aus und kommen erst gegen Ende unvermeidlicherweise doch auch zum Glück als Zustand, zum Glück als qualitativen Begriff — zum Glück im Sinne der Eudaimonia. Aber was tun? Eine offensichtliche Antwort: Lotto spielen. Mit anderen Worten: Das Glück aktiv herausfordern, egal wie schlecht die Chancen stehen. Schlussendlich lieber Hanswurst, als …? Denn als Trottel darf man sich auch heiter durchs Leben bewegen.
Brian Eno und der Soundtrack des Alltags
Das erste Ambient Album und Grundzüge einer postmodernen Ästhetik
Brian Eno gilt heute als Vater und Täufer der Ambient-Musik. Vor 45 Jahren produzierte er sein Album “Ambient 1: Music for Airports”, das erst ein Jahr nach seiner Fertigstellung 1979 veröffentlicht wurde. Mit ihm legte er den bisher konsequentesten Versuch seiner Ambient-Arbeiten vor und brachte das bis dahin unbenannte Genre erstmals auf den Begriff. Sein vielseitiges musikalisches Talent hat die verschiedensten Formen und Gestalten hervorgebracht und in der Kollaboration mit Berühmtheiten wie David Bowie, David Byrne oder Roxy Music hat Eno einen großen Einfluss auf die Popmusik der zweiten Hälfte des 21. Jahrhunderts ausgeübt. Wie kam der exzentrische Kunststudent auf die Idee einer wortwörtlich übersetzen Musik der Umgebung? Wer käme bei hellen Sinnen überhaupt auf die bizarre Idee, seine Umgebung unmittelbar zu vertonen? Für den Anfang sollen zwei biographische Details Aufschluss darüber geben, wie Eno ein Licht auf diesen bis dahin unbetretenen Pfad zur Musik fiel.
Nach seinem Ausstieg bei Roxy Music 1973 publizierte Eno jährlich seine ersten Alben wie “Here come the warm Jets”, “Taking Tiger Mountain (By Strategy)”, “Another Green World”, „Discreet Music“ und “Before and After Science”, die von einer großen Kreativität und Experimentierfreude zeugen. 1975 wurde er auf dem Heimweg von seinem Studio von einem Taxi angefahren. Unter Einnahme starker Schmerzmittel verbrachte Eno einige Wochen im Krankenhaus. Eine Freundin brachte ihm einen Plattenspieler und Platten mit Harfenmusik, die er leise, untermalt von den Geräuschen der Umgebung, dem Regen und der Geräuschkulisse des Krankenhauses, hörte. Wie aus Selbstaussagen hervorgeht, war genau das die Erfahrung, die ihn zu einer Musik inspirierte, “die sich nicht aufdrängt, sondern eine Art Landschaft kreiert, zu der du dazugehören kannst.” Zurück aus dem Krankenhaus, sitzt Eno 1978 am Flughafen Köln-Bonn und muss sich eine Playlist mit zeitgenössischer Unterhaltungsmusik anhören, die über die Lautsprecher des Flugzeughafens abgespielt wird. Er beklagt sich über die geschmacklose Auswahl der Hintergrundmusik und fragt, warum der Staat, wenn er schon aberwitzige Summen in den Bau, die Logistik und Ausstattung eines Flughafens investiert, nicht auch ein paar Cent für gute Musik herausrücken kann.
Jeder Ort hat seine Musik, so lässt sich Enos Kritik in eine positive Feststellung und praktische Forderung übersetzen. Eno will mit „Ambient 1: Music for Airports“ diese praktische Forderung mit kulturkritischer Spitze einlösen. Doch darf man sich Enos Ambient-Musik angesichts des pragmatischen Interesses, dem sie entspringt, als vollkommen funktional vorstellen, sodass Sie einfach auf gesellschaftliche Bedürfnisse anspringt und ästhetische Lösungen wie pharmazeutische Mittel bereitstellt? Wäre sie dann nicht mehr als ein musikalisches Beruhigungsmittel für den chronisch gestressten Großstadtmenschen, der von Terminal 1 zu Terminal 2 hetzt? Mitnichten! Wenngleich Ambient von der Idee inspiriert ist, einen Raum klanglich auszugestalten, in Form eines ästhetischen Extraservices IKEAS eine musikalische Möblierung zu leisten, ist sie mehr als Fahrstuhlmusik und belanglose Hintergrundbeschallung. Eno hatte sich von Anfang an scharf von einem konsumistischen Missverständnis seiner Musik abgegrenzt. In den Liner Notes von „Music for Airports“ setzt er sie von der kommerziellen und gefälligen „Muzak“, die keine andere Wirkung erzielen will als die des restlosen Wohlgefühls, ab: „To create a distinction between my own experiments in this area and the products oft the various purveyors of canned music, I have begun using the term Ambient Music.“1 Konservenmusik, Musik aus der Dose, Musik to go soll Ambient also nicht sein. Sie erschöpft sich, so darf man schließen, nicht in ihrer praktischen Verwertbarkeit und Nützlichkeit, sondern muss eine Form von Unvorhersehbarkeit besitzen, die dem kulturindustriellen Massenprodukt gänzlich fehlt. Doch was ist sie dann? Ob sie ihr Versprechen halten kann, wollen wir später am Werk prüfen, doch werfen wir vorher einen Blick auf die zeitgenössische Rezeption.
Um es kurz zu machen: „Ambient 1: Music for Airports“, auf das in den 80er Jahren weitere Ambient-Alben wie „Ambient 4: On Land“, „Thursday Afternoon“ oder das Album „Apollo — Atmospheres & Soundtracks“ von 1983 mit Daniel Lanois und Roger Eno folgen werden, wird von zeitgenössischen Kritikern keineswegs bejubelt, ja kaum zur Kenntnis genommen und läuft schon gar nicht durch die Lautsprecher irgendwelcher Flughäfen. Stattdessen läuft diese Musik, wenn überhaupt, in Wohnzimmern von Musiknerds, im Warm-up eines Dj-Sets oder in buddhistischen Meditationszentren. Unbeirrt vom mäßigen Erfolg seines Albums setzt Eno 1978 seine Musikproduktionen fort, die Welt dreht sich weiter und ein Jahr später erscheint unter dem Titel “Das postmoderne Wissen” das Hauptwerk des französischen Poststrukturalisten Jean-Francois Lyotard. Mit ihm ist ein möglicher Knotenpunkt von Musik- und Geistesgeschichte gegeben und damit ein geistesgeschichtlicher Kontext, in dem wir Enos Werk zu deuten versuchen werden.
Bevor die Geisteswissenschaften die Möglichkeit der Geschichtsschreibung für obsolet erklärten, befand sich Lyotard in seinem epochemachenden Hauptwerk eben noch in der Lage, dem abendländischen Geist das “Ende der großen Erzählungen” in Rechnung zu stellen.2 Die Botschaft dieser vielfach zitierten Formel ist eindeutig: Keine universale Aufklärung der Menschheit nach Kant, kein Fortschritt im Bewusstsein der Freiheit, kein immer weiter zu sich selbst gelangender Geist nach Hegel, kein radikaler Umbruch der ökonomischen Verhältnisse durch die Revolution des Proletariats nach Marx und keine ultimativen Sinnversprechen durch die moderne Naturwissenschaft. Die philosophischen Denksysteme, einmal in nietzscheanischer Manier als Erzählungen, als Märchen, die der Philosoph der Menschheit zum Einschlafen erzählt, enttarnt und damit in ihrer illusionierenden Funktion durchschaut, haben ihre Substanz eingebüßt. Die großen Sinnfelder in den Himmelsgärten der Metaphysik wurden abgeerntet. „Was bleibet aber“? Wenn die Makroebene stillsteht, liegt ein Blickwechsel auf die Mikroebene nahe: Das Ende der großen Erzählungen ist der Anfang der kleinen. Um die Bedeutung dieser Satzerweiterung zu begreifen, muss man sich vergegenwärtigen, welche Bedeutungen in dem Gegensatz groß–klein enthalten sind: Das Große ist das Allgemeine und Maßgebende, für jedermann Gültige, der gesamtgesellschaftliche, politische Entwurf einer Epoche. Es ist die rahmen- und zielgebende Zentralfiktion einer Gesellschaft. Das, worauf sie fußt und wohin sie geht. Für die westliche Gesellschaft konnte man hierfür über Jahrhunderte hinweg das Narrativ des Fortschritts, der Emanzipation oder der allgemeinen Steigerung einsetzen. Klein sind demgegenüber die Lebensäußerungen und Ausdrucksformen, die keinen normativen Gehalt mehr besitzen, der Anspruch auf Allgemeinheit erhebt. Sie sind viel weiter in den Strom der Relativierung von Erkenntnissen, Behauptungen und Lebensweisen hineingerissen und treffen ihre Entscheidungen unterhalb der Schwelle allgemeiner, objektiver Beschreibungen. Der Geltungsbereich des Wissens differenziert sich in zahllose separate Geltungsbereiche, deren Umfang antiproportional zur Wissensvermehrung abnimmt. Weil die individuelle Perspektive einen immensen Bedeutungszuwachs erfahren hat, wird das Allgemeine zugleich abhängiger vom Individuellen: der Situation, der Person, Raum, Zeit und Kultur. Mit einem Wort: Es ist das Individuum, das sich am Ende dieser großen Erzählungen im Spiegel erblickt. Denn seine Geschichte geht weiter, ob betroffen oder unbetroffen von Lyotards Insolvenzanmeldung, ob in nihilistischer Verzweiflung über die Sinnlosigkeit des Daseins oder in vollendeter Indifferenz gegenüber der Sinnfrage.
Doch war das Individuum im starken Sinne seiner Etymologie, nämlich als die kleinste gesellschaftliche, unteilbare Einheit nicht schon längst von fast allen philosophischen Schulen des 20. Jahrhunderts als Überrest der bürgerlichen Epoche verabschiedet worden? Es gilt zu präzisieren, dass es sich nicht um das dem Wortlaut nach Unteilbare (in-dividuum) handelt, sondern gerade um den in Aktionen begriffenen und in unzählige Beziehungen, Kommunikationsnetze und Zusammenhänge verflochtenen Menschen der globalen Welt, der sich in Varianten seiner selbst maskiert und hybridisiert, der auf mehreren Accounts in den sozialen Medien vernetzt ist, ortlos lebt, in Flugzeuge und Schnellzüge einsteigt, der Passagier, Besucher, und Bekannter von Bekannten ist.
Wie wirkt sich diese Verschiebung zum Einzelnen und Individuellen auf der Ebene des Allgemeinen aus? Hier gilt nun das postmoderne Laissez-Faire oder wie es der Germanist Jochen Hörisch in Antithese zu Adornos bitterer Sentenz von der Unmöglichkeit eines richtigen Lebens in der Moderne paraphrasiert: “No debate, no exit, no exitus, no exodus. But a beautiful life.”3 Der Gewinn im Verlust der großen Sinnentwürfe liegt in einer Unbefangenheit und Leichtlebigkeit. Solange die großen Erzählungen nicht mehr mit allgemeiner Verbindlichkeit diktiert werden, können sie bei den Einzelnen auch keine großen Enttäuschungen mehr hervorrufen. Solche Enttäuschungen führten im Auslaufen der Moderne zu der Erfahrung eines Endes der Täuschungen (Nietzsche). Sie entlasten von einer allzu ernst gemeinten Utopie oder einem dogmatisch verhängten Ideal und stellen es jedem frei, das Maß seines Lebens selbst zu finden. Die Idee der Einheit der Geschichte, einem Gravitationszentrum der kollektiven Erfahrungen, um das sich die historischen Ereignisse ordnen, verliert ihre Anziehungskraft. Der Leitstrang der Selbstbeschreibung einer Nation, einer (westlichen) Staatengemeinschaft, die sich großzügig mit der Menschheit gleichsetzte, zerfranst sich in viele kleinere Fäden, die kein gemeinsames Ziel mehr haben.
In der Kunst und Ästhetik hat die Rede vom Ende des Großen eine andere Bewandtnis: Es ist das Ende des großen Pathos´ und der Erhabenheit, mit denen insbesondere die bürgerliche, moderne Kunst aufgetreten ist. Ob Beethovens Symphonien, Goethes Faust oder Thomas Manns ehrwürdige Jahrhundertromane — es sind Ausblicke und Vorahnungen der letzten Dinge und Fragen des menschlichen Daseins. Sie alle wollen das große Ganze epochal ins Bild setzen. Im Größenwahn des Klassischen pflanzen sie ein Panorama des vergänglichen Lebens im unsterblichen Lebensnerv der Kunst.
Wenn der Kunst jedoch nicht mehr die hehre Aufgabe zugemutet wird, über das große Ganze zu walten und Antworten auf die großen Fragen zu geben, eben weil das Große keine Konjunktur hat, dann kann sie, Meisterin der Anpassung, sich dem Unscheinbaren, dem Trivialen und Alltäglichen zuwenden; nicht in impressionistischer Verdichtung und Verklärung des Augenblicklichen, sondern in steter und unprätentiöser Begleitung des Lebens. Sie macht das Triviale zu ihrem Gegenstand und unterläuft damit ihre Tradition, das Substantielle und Allgemeine zu verhandeln. Andy Warhol stellt seine Tomatendosen und seine Brillo-Box aus, Peter Handke protokolliert und verkettet Mitte der 70er in seinem Journal “Das Gewicht der Welt” die belanglosesten Alltagsszenen und stellt noch den sprachfernsten Ausdruck in der Sprache. Und Brian Eno schließlich produziert eine Musik, die so unauffällig und nebensächlich wirkt, dass man sie wie die Luft, von der man umgeben ist, kaum bemerkt. In allen drei Fällen wird der Gegenstandsbereich der Kunst in Bild, Schrift und Ton schleichend um bisher unbekannte Dimensionen erweitert. Jedes Mal wird die Fragwürdigkeit der Daseinsberechtigung der Kunst, die ungeklärte Frage, was sie ist, umgemünzt in das Experiment, was sie sein könnte, jedes Mal wird aus ihrer Identitätsproblematik eine Heuristik zu ihrer Identitätserweiterung gewonnen. Es ließe sich eine Geschichte der Kunst erzählen, die ihre Kontinuität darin hätte, dass sie sich kunstfremde Gegenstände fortschreitend einverleibt. Die Kunst wendet sich dem ermüdenden, gleichmütigen Alltagsleben zu, sie wirft das Licht auf die herausgezogene Besteckschublade, die geparkten Autos vor dem Haus, den Geruch des frischgewaschenen Hemds beim Zuknöpfen. Fasziniert betrachtet Handke in seinem Journal eine stinknormale Wasserflasche: „Glücksgefühl, eine Flasche Mineralwasser anschauen zu können. (Das große Lebensgefühl: es gibt was anderes!).“4 Die Kunst dieser Kunst liegt darin, im Gewöhnlichen das Ungewöhnliche, in der Normalität das Wunder zu sehen, das Ungreifbare, Flüchtige ins Bild zu setzen, ohne es zur Dauer zu zwingen.
Noch zu Beginn des Jahrhunderts war der Alltag abgesehen vom Impressionismus in der Malerei und dem Naturalismus in der Literatur ein tendenziell kunstfremder Gegenstandsbereich. Das lässt sich nicht nur an einzelnen Werken, Epochen und Autoren studieren, sondern auch an den Kunsttheorien dieser Zeit. Der junge Georg Lukács machte die Dichotomie von Leben und Form zur Grundunterscheidung seiner frühen Kunstphilosophie. Die tragische Kunst hebt den Stoff, den sie dem bloßen, empirischen Leben entlehnt, in den Adel der Form. Sie transzendiert ihn in eine dramaturgische Höhe, zu der das gewöhnliche Leben nur in Ausnahmemomenten anschwillt, um früher oder später von ihr abzufallen. Das Naturell des empirischen Lebens, die schiere, formlose Existenz des Menschen skizziert Lukács in seinem Essay „Metaphysik der Tragödie“ 1910 folgendermaßen: “Das Leben ist eine Anarchie des Helldunkels: nichts erfüllt sich je in ihm ganz und nie kommt etwas zum Ende; immer mischen sich neue Stimmen, verwirrende, in den Chor jener, die schon früher klangen. Alles fließt und fließt ineinander, hemmungslos, in unreiner Mischung; {…} nie blüht etwas bis zum wirklichen Leben.”5 Die Tragödie bezeugt für Lukács, dass innerhalb seiner seinshierarchisch gedachten Beziehung von empirischem Leben, aufblitzenden Wesensmomenten in ihm und deren Verstetigung in der transzendierenden Form der Kunst die Möglichkeit durch die letztere gegeben ist, das Sein vollkommen im Wesen zu durchdringen. Seine Ästhetik erkennt das unwirkliche, unfertige Leben als die Grundmasse jeder künstlerischen Form an, doch nur zähneknirschend als unvermeidbare Begleiterscheinung und als Aufbauelement des eigentlichen und wahren Lebens, das nur in der Kunst Gestalt annimmt, indem es das Alltägliche überwindet.
Enos und Handkes Kunst bezieht gegen diese normative Ordnung unbewusst Stellung, indem sie sich auf die Seite des verfemten Alltagslebens schlägt und die Unterscheidung von transzendenter Formkunst und formloser Empirie zurücknimmt in das unüberschaubare Gewimmel des Lebens. Sie bespielt gerade eben das Halbdunkle, das wegen seiner Vagheit und Unbestimmtheit “als eintöniges, einlullendes Wiegenlied” von Lukács abgetan wird, das ihm zufolge die Menschen nur aus Schwäche und eigener Unentschiedenheit liebten, weil sie umgekehrt “das Eindeutige” hassen würden.6 Das Eindeutige ist der Schicksalsspruch, die unwiderrufliche Bestimmung durch eine Macht, die größer ist als das Selbst. In ihm manifestiert und versichert sich der Geist einer Epoche, eines Zeitalters im einzelmenschlichen Dasein. Das Eindeutige und Notwendige sind formale Eigenschaften der Diktate des Regimes der „großen Erzählungen“, von denen Lyotard spricht. Lukács will sie in einem Formaristokratismus regieren lassen und zur Norm gegen jeden pluralistischen Relativismus erheben, wie ihn die Postmoderne erstmals affirmieren sollte. Er sieht nicht, welche Vielfalt der Form unterhalb seines vertikal errichteten Formideals verborgen bleibt, wie viele Zwischentöne, Halbtonschritte und gattungslose wie unscheinbare Akkorde der Klaviatur des Alltagslebens entnommen werden können. Durch die strikte Unterscheidung von Alltagswelt und hoher Formkunst macht Lukács seine Kunsttheorie blind auf dem Auge des Alltags, denn er kommt in ihr nur negativ vor, nämlich als Prolog und Präludium der „wahren“ Kunst.
Unter der Annahme, dass Enos Ambient-Musik die Vertonung der alltäglichen Existenzweise darstellt, lautet das Gegenangebot seitens einer Ästhetik: Philosophie des Alltags. Diese Musik ist ein stiller Begleiter der alltäglichen Existenz, sie ist Teil einer Ästhetik der Existenz, sofern ihre Töne die Existenz in ihren alltäglichsten Momenten treffen und ihr einen klanglichen Hintergrund verleihen. Ihre repetitiven, schlichten Klangfolgen purzeln in einen Donnerstagnachmittag und schweben wie Staubpartikel in dem Sonnenlicht, das auf die Dielen im Wohnzimmer fällt. Wie Eno selbst sagt, sind es Landschaften, — Klanglandschaften und Toninstallationen, die dem Hörer einen meditativen Raum zur Selbstbesinnung und Reflexion öffnen. So stellt das Cover die Landkarte eines Flussdeltas dar, in dem viele Seitenarme eines Gewässers sich durch das offene Gelände einer gelben Landschaft schlängeln und an deren Ufern die Vegetation grünt, was auf der Karte durch eine grüne Umrandung der Flussarme markiert ist. Es ist ein offenes Gefüge, das durch das Mäandern und freie Fließen der Seitenarme des Flusses seine Gestalt stetig zu wandeln scheint. Es entstehen neue Seitenarme, alte versiegen, manche bilden Seen und manche enden in der gelben Fläche. Das in sich bewegte Bild einer Landschaft ist hiermit visuell aufgezeichnet und die Idee dieser Musik gewinnt erstmals eine zweidimensionale Bildlichkeit. Doch wie entsteht eine Landschaft musikalisch?
„Ambient 1: Music for Airports“ besteht aus vier Kompositionen, die auf dem Hintergrund verschiedener Klangkulissen alle ein Thema bis zu einer Viertelstunde lang wiederholen. Das erste Thema setzt sich aus einer basalen Klaviermelodie zusammen, die von einem Whitenoise untermalt ist, zu der nach und nach weitere Elemente hinzutreten. Die Melodie tritt hervor, spielt sich ab und verebbt, um der Stille im Lied Raum zu geben, sie anschließend wieder zu brechen und um leicht variiert antwortend wiederzukehren. Lautstärke und Anschlag der Klaviernoten sowie die Bewegung der Hintergrundgeräusche lassen die Melodie ferner oder näher rücken, sodass sie nie stillsteht.
Die zweite Komposition ist bestimmt durch einen Chor aus warmen, hellen Stimmen. Man glaubt sich in einem hellen Saal, einem Schwellenraum oder gar einer Himmelspforte wiederzufinden. Samples der Stimmen, die in der Stimmlage und Stimmfarbe variieren, werden im Wechsel eingespielt, mal im Gleichklang verschmelzend, mal in chronologischer Abfolge und Gegenfolge, sodass ein Mit- und Gegeneinander der Stimmlagen spürbar wird, eine Polyphonie. Wie in der ersten Komposition ergibt sich aus der Wiederholungsstruktur, die nie ganz befriedigt wird, da die Wiederholungen jeweils um ein Geringes verschoben sind, und den Pausen zwischen ihnen, in denen die Stimmen regelmäßig zur Ruhe kommen, ein leises Auf und Ab auf der Formebene.
Betrachtet man den kompositorischen Aufbau der Stücke, fällt auf, dass sie keine klassische Einheit aus Anfang, Mitte und Ende bilden: In ihren Widerholungsstrukturen geleiten sie von sich über sich zu sich — wie das Alltagsleben. Sie sind entfinalisiert, haben kein inneres Telos, sie sind nicht wie die Töne einer Symphonie in ihrem Woher und Wohin organisiert. Ihre interne Richtungslosigkeit erlaubt es dem Hörer, jederzeit in sie ein- oder auszusteigen. Doch sie bleiben für den, der eingestiegen ist, nicht eine bloße Oberfläche. Sie entfalten sich, werfen Falte um Falte in den Wiederholungen, sodass die zweidimensionalen, flachen Melodien immer weiter an der dritten Dimension der Tiefe hinzugewinnen, die Landschaft sich ausdehnt und der Hörer immer weiter in sie eingesogen wird. Die immersive Kraft dieser Musik steckt gerade in den Wiederholungen und leichten Abwandlungen, die eine stete Minimaldifferenz zum Vorhergehenden schaffen. Die sphärischen, wie Sonnenlicht aus Wolken sickernden Töne sind der Soundtrack der kleinen Erzählungen, der Erzählungen, die sich nie zu einem Ganzen abrunden, die in Lukács´ Worten auf der Seite des anarchischen, fließenden Lebens im Strom mitschwimmen, ohne sich je zu einem Eindeutigen zu verfestigen. Sie sind fragmentarische Zeugnisse einer selbstvergessenen Existenz, die von diesen kaum Notiz nimmt.
Die Klangfarbe und musikalische Erscheinungsweise dieser Soundlandschaften wirken künstlich-synthetisch. Denn die Töne sind allein schon durch ihre maschinelle Wiederholungstreue dem fehlbaren, spontanen Spielen eines Instrumentes von menschlicher Hand entfremdet. Die geloopten Tonbandaufnahmen werden wie Tonstreifen hinter- und übereinander gelegt. Der Musiker kommt in diesen Klanglandschaften nicht vor, sie wirken verselbstständigt. Stattdessen ist es, als würde man einen Tonkasten öffnen, aus dessen Innenraum eine Melodie erklingt. Damit ergibt sich eine besondere Konstellation angesichts der Kategorien, die Diedrich Diederichsen als konstitutiv für die Erfahrung von Popmusik begreift. Diederichsen nach stellt sich in der Popmusik immer die Frage nach dem „Bezugspunkt dieser faszinierenden Geräusche“.7 Der Rezipient bzw. Hörer von Popmusik agiert nämlich ständig im Modus der Imagination. Er hört nicht einfach nur, sondern er phantasiert zum Gehörten ständig Vorstellungen hinzu. Das erfolgt Diederichsen zufolge primär über „reale Körperlichkeit bezeugende Klänge“.8 Diese klanglichen Verkörperungen stellen dem Rezipienten die Frage: Wer ist diese Person hinter der Musik und was fühlt sie? Im Gegensatz zu den Zombies zum Beispiel, die bei „Time of the season“ lustvoll ins Mikrophon atmen oder Keith Moon von „The Who“, der ekstatisch auf sein Schlagzeug eindrischt, stockt bei „Music for Airports“ die Vorstellungsebene bezüglich der Verbindung aus Körperlichkeit und Klang. Außer der künstlich arrangierten Stimmen und Roberts Wyatts dahingleitenden Klaviertönen kann man sich kaum Körperlichkeit hinter dieser Musik vorstellen, eher Ideen, die zu Klangkonzepten wurden. Das Gegenangebot dieser Musik scheint zu sein, dass sie, anstatt bestimmte, verkörperte Vorstellungsinhalte zu erwecken, dem Rezipienten einen Vorstellungs- und Reflexionsraum öffnet.
Bei dem vielseitig, vielleicht allseitig deutbarem Klanggebilde Enos wollen wir die eingeschlagene Richtung der Interpretation weiterverfolgen, indem wir in den Wiederholungen die Beziehbarkeit der Ambient-Musik auf Wesen und Struktur des Alltags sehen. Damit halten wir nur einen unter vielen hermeneutischen Schlüsseln in der Hand.9 Die Wiederholung ist das gleiche und nicht dasselbe wie schon Heraklit wusste, sie lässt eine Minimaldifferenz und sei es bloß den zeitlichen Abstand, zu. So kann sich das, was sich wiederholt, gradweise vom Wiederholten unterscheiden, eine spannungsgeladene Devianz erzeugen und das Erste mit dem Zweiten in den Dialog setzen, sodass die Rang- und Reihenfolge unwesentlich wird. Alltag und Ambient-Musik kennen keine Akzente, Hoch- und Tiefpunkte kommen in ihnen selten oder überhaupt nicht vor, stattdessen geht es um die Routine des Immer-so-Weiter. Man weiß nicht, in der wievielten Wiederholung man sich befindet, man weiß nur, dass man sich mittendrin befindet und dass Ende wie Anfang nicht in Sichtweite sind. Der Alltag wirkt deswegen so unwesentlich, weil er nur ein Übergang, ein unfertiger, schlecht gemalter Tag ist. Indem Eno diese Schleifen des Alltags musikalisch reproduziert, macht er den Alltag in einem alltagsfremden Klangmedium erfahrbar. Die Redundanz seiner Melodien ließe sich ohne Weiteres als der ewige Trott des Alltags, als eine blinde Kunst der Kopie kritisieren. Doch das Surplus, das in der Devianz seiner Wiederholungen liegt, bringt ein anderes Element zum Tragen, ein antagonistisches: Offenheit und Kontingenz. Oft kippen Enos Melodien, kurz bevor sie eine exakte Wiederholung vollziehen, in eine leichte Abweichung und setzen damit eine Differenz oder sie sind der Melodie nach zwar identisch, werden aber anders von den „Pads“ im Hintergrund untermalt oder sie kehren zuletzt in unterschiedlichen Zeitabständen wieder, die wir als Hörer nicht vorhersehen können. Sie demonstrieren dem Hörer ständig, dass sie auch anders sein könnten. Statt zu schließen, wandeln sie sich, wie der Alltag, in dem keine Punkte, sondern nur Kommata gesetzt werden. Durch eine radikale Abmilderung der Formstrenge und aller formalen Notwendigkeiten, ermöglichen diese flachen Tonabfolgen ein hohes Maß an ästhetisch artikulierter Kontingenz. Hierin liegt der Grund für Enos Diktum, „Ambient music {…} must be as ignorable as it is interesting“, das den vielzitierten letzten Satz aus den Liner Notes zu „Music for Aiports“ bildet.10 Die Unzuverlässigkeit der Tonabfolgen bei gleichzeitig ständiger Wiederholung und Umkreisen einer relativ festen Grundstruktur macht ihre Rezeption bald sinnfrei, weil nie wirklich etwas Neues passiert, bald hingegen sinnvoll: Befreit man sich nämlich von der eingeschulten Rezeptionshaltung, werden die Sinne empfänglich für die Entwicklungen und Geschehnisse im Kleinen. Die inhaltliche Vagheit und Unbestimmtheit der Tonabfolgen nähert sie der Belanglosigkeit an, andererseits erzeugen sie den Schein, als hätten sie die Belanglosigkeit selbst vertont und in ihr ein unentdecktes Feld von Bedeutungen freigelegt. Wie ein Tag nur auf den ersten Blick dem anderen gleicht und so in bewusstloser Abschätzung auf dem Haufen aller Tage, dem Alltag landet, während er bei genauerem Hinsehen immer eine Überraschung, eine dezente Differenz zum Vortag besitzt, so heben sich die repetitiven Tonfolgen voneinander ab. Indem sie die Schichten des Alltags, seine charakteristischen Wiederholungen simulieren, legen sie ihn frei. Sie zeigen uns, indem sie ihn zu einer ästhetischen Erfahrung machen, wie wir in ihn hineingeraten und wie er uns umgibt. Welche Qualität es schließlich ist, die einen Tag trivial macht, ist philosophisch eine offene Frage. Denn die Antwort, es sei das Immergleiche der Tage, was sie alltäglich mache, ist eine bloße Verschiebung der Frage, was denn dieses Immergleiche auszeichne. Eno beantwortet diese Frage nicht — Kunstwerke schildern Erkenntnisse nicht aus — wirft sie aber auf und paust die Gestalt des Alltags klanglich ab, die wir so blindlings durchlaufen und meistens ohne nachzudenken wegatmen. Seine Musik vermittelt uns eine Vorstellung davon, welche Untiefen sich in und an der Oberfläche verbergen. Philosophie des Alltags ist antiplatonische Philosophie der Oberfläche in den Spuren Nietzsches und Oscar Wildes. Mit Brian Enos „Ambient 1: Music for Airports“ hat sie 1978 im Reich der Klänge das Licht der Welt erblickt. Seitdem sind die Donnerstagnachmittage, so der Titel eines seiner weiteren Ambientalben, musikalisch zu Bewusstsein gekommen.
Fünfzig Jahre vor dem Erscheinen von „Ambient 1: Music for Airports“ sollte Paul Valery 1928 in seinem Essay „Die Eroberung der Allgegenwärtigkeit“ eben diese vollkommen neue Kunstform, wie wir sie bis hierher analysiert haben, in prophetischer Weise besprechen. Valery sieht ein Zeitalter heraufkommen, dessen technologischer Stand an Möglichkeiten, die technischen Verfahrensweisen der Kunst und damit die Idee der Kunst selbst elementar verwandeln werde. Die technische Möglichkeit, vor allen Dingen musikalische Kunstwerke, denen Valery eine Vorreiterrolle in dieser Entwicklung zuspricht, an jedem Ort des Planeten zu jeder Zeit erfahrbar zu machen, transformiere die Form der ästhetischen Erfahrung. Der Rezipient könne erstmalig den Augenblick, in dem er sich der Musik widmet, frei wählen, jederzeit könne er sein Wohnzimmer in einen Konzertsaal verwandeln und müsse nicht mehr auf die nächste Aufführung durch ein Orchester warten. Das war zumindest für Valery die Verheißung dieser technischen Neuerung, wenngleich wir heute ein Konzert weiterhin sehr zu schätzen wissen. Die permanente Verfügbarkeit der Werke nennt Valery eine „Art der Allgegenwärtigkeit“11 und beschreibt sie wie folgt:
Auf unseren Anruf hin werden sie überall und zu jeder Zeit gehorsam gegenwärtig sein oder sich neu herstellen. {…}. Wie das Wasser, wie das Gas, wie der elektrische Strom von weit her in unseren Wohnungen unsere Bedürfnisse befriedigen, ohne daß wir mehr dafür aufzuwenden hätten als eine so gut wie nicht mehr meßbare Anstrengung, so werden wir mit Hör- und Schaubildern versorgt werden, die auf eine Winzigkeit von Gebärde, fast auf ein bloßes Zeichen hin entstehen und vergehen.12
Es sei wie im Märchen, wo die Dinge der Umgebung Töne und Wörter von sich geben, als könnten sie singen oder sprechen. Enos Musik ist eben jene Kunst, die aus dem Wasserhahn tröpfelt, wie Strom aus der Steckdose fließt oder einem Türrahmen gleicht, dem Musik entweicht. Der traumhaft-märchenhafte Zustand, in dem „jedes Ding, das angerührt wurde, eine Melodie veratmete“13 und den Valery begeistert als eine Kunst der Zukunft in einem ersten Ferngespräch anruft, — er ist in Enos Musik erreicht geworden. Was Valery auf der Ebene der Form als Paradigmenwechsel beschreibt, ist bei Eno zum Inhalt geworden. Die technischen Möglichkeiten, an denen Valery noch den Glanz des Neuen und Modernen bestaunt, sind in die Idee der Ambient-Musik eingeschmolzen. Dass ich nämlich an jedem Zeitpunkt von „Music for Airports“ rezipierend einsteigen kann, ohne ein klassisches Arrangement von Anfang, Mitte und Ende zu verpassen, zeugt von der gleichbleibenden Gegenwärtigkeit dieser Musik. Sie hat weder Anfang noch Ende, sondern spielt sich in einem Mittelfeld ab.
Wer Valerys Essay liest, darf sich glücklich schätzen, Zeitgenosse dieser verblüffend präzise prophezeiten Gegenwart zu sein. Ein gleißendes Licht liegt auf den ästhetisierten Lebenswelten, die nach Belieben einzurichten sind. Nur einen Nachteil kann diese Entwicklung haben, antizipiert Valery: Dass man nämlich aus den Klängen kaum noch herauskomme, dass sie einen, wohin man auch gehe, umgeben und begleiten, ja schon erwarten: Im Café, im Restaurant, in der Bahn usw. Valery spricht nicht direkt davon, doch scheint er die drohende Entwertung, die darin liegt, gespürt zu haben. Er empfiehlt dem Leser nämlich abschließend den geweihten Augenblick für die ästhetische Erfahrung wählen zu lernen, um das eigene Leben um ungeahnte Tiefen zu intensivieren. Allgegenwärtige Kunst setzt sich dem Risiko der Bedeutungslosigkeit aus. Kann es da noch verwundern, dass Enos „Ambient 1: Music for Airports“ gerade dieses Risiko auf sich nimmt, indem es sich dieser Bedeutungslosigkeit von Anfang an überlasst?
Literatur
Diederichsen, Diedrich (2014): Über Popmusik. Köln: Kiepenheuer & Witsch.
Eno, Brian (1979): Ambient 1: Music for Airports. UK: EG, Polydor.
Handke, Peter (1979): Das Gewicht der Welt. Frankfurt: Suhrkamp Taschenbuch.
Hörisch, Jochen: Es gibt (k)ein richtiges Leben im falschen. Fr.a.M.: Suhrkamp 2003.
Lukács, Georg (1910): Metaphysik der Tragödie: Paul Ernst. In (ders.): Die Seele und ihre Formen. Bielefeld: Aisthesis Verlag 2011.
Lyotard, Jean-Francois (1979): Das postmoderne Wissen. Ein Bericht. Wien: Passagen Verlag 1986.
Valery, Paul (1928): Die Eroberung der Allgegenwärtigkeit. In (ders.): Über Kunst. Fr.a.M.: Bibliothek Suhrkamp 1973.
von BWG, Lektorat und Ergänzungen von Maxim Klusch
Eno, Brian (1979): Music for Airports/Ambient 1 liner notes.↩︎
Lyotard, Jean-Francois (1978): Das postmoderne Wissen. Die folgende Darstellung von Lyotards Diagnose deckt sich ungefähr mit folgender Passage aus dem Original: „Dem Veralten des metanarrativen Dispositivs der Legitimation entspricht namentlich die Krise der metaphysischen Philosophie und der von ihr abhängigen universitären Institution. Die narrative Funktion verliert ihre Funktoren, den großen Heroen, die großen Gefahren, die großen Irrfahrten und das große Ziel. {…} Jeder von uns lebt an Punkten, wo viele von ihnen einander kreuzen.“ Vgl. ebd., S. 24.↩︎
Hörisch, Jochen (2003): Es gibt (k)ein richtiges Leben im falschen, S. 45.↩︎
Handke, Peter (1979): Das Gewicht der Welt, S. 79.↩︎
Lukács, Georg: Die Seele und die Formen, S. 207.↩︎
S. o.↩︎
Diederichsen, Diedrich (2014): Über Popmusik, S. 24.↩︎
S. o.↩︎
Ein anderer Deutungsansatz ist mit der Idee einer musikalischen Landschaft, die mit dem Genrebegriff „Ambient“ aufgerufen wird, gegeben. In diesem Fall wäre eine Philosophie der Landschaft das adäquate Gegenangebot der Ästhetik und für eine Gesamtdeutung, die auch die Folgearbeiten Enos im Bereich der Ambient-Musik berücksichtigt, sogar tragfähiger.↩︎
Eno, Brian (1979): Music for Airports/Ambient 1 liner notes.↩︎
Valery, Paul (1928): Die Eroberung der Allgegenwärtigkeit, S. 47.↩︎
S. o.↩︎
Ebd., S. 50.↩︎