Die Verwohnzimmerung des Öffentlichen

Unser Privatleben ist portabel geworden. Trotz Beschleunigung hat uns das immobilisiert. © by Marc SmithUnser Privatleben ist portabel geworden. Trotz Beschleunigung hat uns das immobilisiert. © by Marc Smith

Oder: Vom mobilen Reich des Privaten

Wer in den Metropolen des Westens die U-Bahn nutzt oder in Deutschland gar das Wagnis eingeht, mit dem Fernverkehr der DB zu reisen, kann die Beobachtung machen, dass ein nicht unbedeutender Teil der Fahrgäste Kopfhörer und In-Ears trägt und meistens zusätzlich die Augen auf einen Bildschirm gerichtet hat. Wenn man bei einer längeren Reise mit der Schreibtischarbeit vorankommen will, dabei selbst in einem Bildschirm versinkend, kann man froh sein, neben diesen stillen Reisegästen einen Platz zu finden. Sie sind reserviert und unauffällig. Für Willkommen und Abschied begnügen sie sich mit einem einfachen Lächeln und machen sonst nicht viel Aufmerken von sich.

Kommt es während der Fahrt zu einem Zwischenfall, etwa zu einem Konflikt zwischen anderen Fahrgästen, kann man auf diese ruhigen Zeitgenossen nicht zählen. Wie sollten sie auch Notiz nehmen von dem, was um sie herum geschieht, wenn ihnen wie den Gefährten des Odysseus´ die Augen gebunden und die Ohren verstopft sind? Anders als den Gefährten des Odysseus´ erlaubt ihnen die verschobene und extern gebundene Aufmerksamkeit den Gesang der Sirenen aus nahfernen Medienwelten zu vernehmen. Sie sind ganz Ohr — nur nicht im Hier-und-Jetzt.

Diese Menschen können gar nicht eingreifen, wenn Zivilcourage gefragt wäre, denn sie sind in der gegenwärtigen sozialen Interaktion mehr Dinge als Akteure. Gleichzeitig kann man ihnen Mangel an Zivilcourage nicht vorwerfen, denn sie verpassen die Chance, sich für diese zu entscheiden. Wer es schon als Verstoß gegen die Zivilcourage rügen wollte, sich diese Chance zu nehmen, forderte von der liberalen Gesellschaftsmoral wahrscheinlich zu viel. Wie kann man, bevor man moralisiert, dieses Verhalten verstehen?

Seit der Verbreitung der Massenmedien ist das Hier-und-Jetzt ein uninteressanter Nebenschauplatz geworden, während Großteile der Aufmerksamkeit für das Dort-und-Dann bzw. das interessantere Hier-und-Jetzt abgezweigt werden. Die Quantifizierung der Aufmerksamkeit in reizüberfluteten Gesellschaften ist für diese medientechnische Umleitung und Neuverzweigung der Lebenswelt die ermöglichende Voraussetzung. Zugleich verhärtet sie diese Voraussetzung in der Folge. Denn mit einer Zunahme medialer Angebote und Zugangsweisen wird der Kampf um Aufmerksamkeit auf einer neuen Ebene fortgesetzt und vertieft.

Aldous Huxleys utopisch-dystopischer Roman Schöne neue Welt” kreiste um die These, dass in einer Konsumgesellschaft die Unterwerfung der Menschen unter die Interessen des Staates nicht durch Gewalt erzwungen werden muss (wie Orwell in seinem Gegenentwurf 1984” meinte), sondern sich durch die betäubende Wirkung des Vergnügens von selbst vollziehen würde. Die Menschen würden ihrer Entmündigung in die Arme tanzen, solange sie Ihnen Vergnügen bereitet. Die Massenmedien und die moderne Technik würden dieses Vergnügen bereitstellen und für eine Dauerbeschallung sorgen. Die Menschen würden ihre sukzessive Verblödung wie einen guten Cocktail genüsslich ausschlürfen. Die narkotisierende Wirkung des Genusses auf das geistige und kritische Vermögen des Menschen wird aggressive Staatspropaganda überflüssig machen. Denn die Wahrheit des bestehenden Systems auszusprechen, muss nicht per Gesetz verboten werden, wenn sich der Gedanke der Wahrheit im Schleier der permanenten Unterhaltung verflüchtigt und die Unterschiedsbildung von Lüge und Wahrheit in einer Grauzone medial produzierter Wirklichkeit verschwimmt. Ziviler Gehorsam wird indirekt, nämlich als Abfallprodukt einer totalen Medienwirklichkeit erzielt.

Sind unsere freundlich lächelnden Mitreisenden nicht ebenso gehorsam wie Huxleys Spaßjünger? Das bleibt eine Mutmaßung bis zu dem Moment, wo sich vor ihren Augen ein Unrecht ereignet, von dem sie kaum Notiz nehmen. Was sich auch während der Zugfahrt an sozialen Akten zuträgt, sie lassen es geschehen, nicht aus Böswilligkeit oder Misanthropie, sondern aus Unwissenheit und Bequemlichkeit.

Die Ablenkungsstrategien und Möglichkeiten der Komfortsteigerung sind heute ausgefeilter denn je, weil in ihrem Angebot die enorme Individualisierung der Warenwelt integriert ist. Was Huxley als den Beginn der Massenkultur und der Inhalte der Massenmedien wie eine große Sonnenfinsternis prophezeite, ist heute umso schwerer zu durchschauen, weil es den persönlichen Interessen so sehr entgegenkommt. Plattformen wie Youtube, Netflix und Amazonprime bieten eine Bandbreite an personalisierten Waren, die ein Echo zum individuellen Konsuminteresse erzeugen und so die individualisierte Bedürfniswelt des Verbrauchers präzise abbilden und verdoppeln. Man fühlt sich heimisch im selbst eingerichteten Netflix-Account, sitzt auf Reisen nicht nur auf dem DB-Platz, sondern mit einer Pobacke auf dem eigenen Sofa im Wohnzimmer. Für den Individualkonsum sind die Pforten des Lieblingsarthouse-Kinos und des Lieblingsmusikclubs virtuell rund um die Uhr geöffnet.

Zur Aktualisierung von Huxleys These muss man kein kulturpessimistisches Klagelied anstimmen, wie es 1985 der Medientheoretiker Neil Postamt in seinem Buch Wir amüsieren uns zu Tode” getan hat. Der Inhalt, ja sogar die Form des Mediums sind zweitrangig für die hier analysierte Wirkung auf das soziale Interaktionsverhalten der Konsumenten. Ob man oberflächlicher Unterhaltung oder philosophisch tiefsinnigen Debatten lauscht,– abgelenkt und wahrnehmungsbetäubt ist man ohnehin, im letzteren Fall sogar noch eher. Das hochindividualisierte Angebot der medialen Welt sorgt dafür, dass der soziale Raum parzelliert wird: Jeder reist von seinem Wohnzimmer in seinem Wohnzimmer in sein Wohnzimmer. Die Verwohnzimmerung der Öffentlichkeit hat ein neues Maß erreicht, was sich übrigens auch an der Mode ablesen lässt, die mehr und mehr Outfits standardisiert, wie wir sie tragen, wenn wir auf dem Sofa sitzen. Das Quittieren der sozialen Rolle im öffentlichen Raum, die zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber der Differenz von privat und öffentlich steht keineswegs im Zeichen einer kommunistischen Brüderliebe unter den Teilnehmern der Gesellschaft, sondern sie wurzelt im Gegenteil in einer latenten Menschenscheu. Der Wille zur Abschottung und zum Überblenden des Unbekannten und Fremden, zur Annexion des öffentlichen Raumes und seiner Eingliederung in das nunmehr mobile Reich des Privaten führte in letzter Konsequenz zu einer kokonartigen Verpuppung der Individuen. Sie würden in persönlich zugeschnittenen Komfortzellen schweben, in denen die Befriedigung eines jeden Bedürfnisses nur einen Knopfdruck entfernt wäre. Die medialen Großkonzerne wollen diesen Konsumententyp in der breiten Masse rekrutieren, ob ihnen das gelingt und ob der Mensch letztlich nicht mehr als ein lustsüchtiger Verbraucher ist, kann hier nicht entschieden werden. Mittelfristig ergibt sich aus den beschriebenen Entwicklungen eine kollektive Passivität im Hier-und-Jetzt.

Wenn Mark Zuckerberg zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit Blick auf seine größte Erfindung Facebook verkündete, wir lebten in einem postprivaten“ Zeitalter, dann ist die eigentliche Krux daran nicht, dass die neue, virtuelle Öffentlichkeit das Private auflöst, sondern dass das Private zum Öffentlichen wird, ja das Öffentliche ausfüllt. In der sozialen Wirklichkeit hat die virtuelle Verschiebung des Privaten ins Öffentliche den Effekt, dass alle mit Privatsachen beschäftigt sind. Die dialektische Wahrheit des postprivaten“ Zeitalters ist somit die Totalisierung des Privaten und ließe sich mit der Gegenformel eines postpublic“ Zeitalters beschreiben.

Soziologen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wollten die Öffentlichkeit und die Rolle des Individuums in ihr mit einer komplexen Rollentheorie als Maskenspiel, als das Agieren auf einer virtuellen Bühne verstehen. Die leeren Blicke, die von unseren freundlichen Fahrgästen für die Öffentlichkeit übrigbleiben, lassen die Idee eines Maskenspiels als Sozialromantik erscheinen. Die Theatermasken werden nur noch nachlässig und halbherzig aufgesetzt, sie verdecken weniger als sie enthüllen. Man schlüpft nicht mehr in eine öffentliche Rolle, in ein Kleid, die Angst, sich die Blöße zu geben hat nachgelassen, weil der strenge Blick der Öffentlichkeit nachlässt. Man plustert sich nicht mehr zur Amtsperson auf, sondern macht es sich in seiner Privatperson gemütlich, weil die anderen das ja auch tun. Nun könnte man das Weichspülen des Sittlichkeitsgebot öffentlichen Auftretens als Emanzipation begrüßen. Der Gürtel wird gelockert und man ist überrascht, dass es selbst in der liberalen Demokratie ein Gürtelloch gibt, das den Bund noch weiter macht. Auf der Strecke bleiben während unserer Zugfahrt hingegen eine Reihe von Erfahrungen, die frühere Generationen möglicherweise als verbindlich angesehen haben für das, was ihnen Leben“ hieß: Begegnungen, Gespräche und Bekanntschaft mit dem Unerwarteten, der Geheimzutat und Essenz echter Lust.

von BWG

July 11, 2023

Folge 29: Der Weltbrand

Schlimm, aber vergleichsweise harmlos: Ein Waldbrand. Hier brennen nämlich bloß gegenwärtige Bäume. © by John McColganSchlimm, aber vergleichsweise harmlos: Ein Waldbrand. Hier brennen nämlich bloß gegenwärtige Bäume. © by John McColgan

Mit Sloterdijk von prometheischen Peinlichkeiten zur globalen Brandstiftung

Interview-Coup! Slavoj Žižek war bei uns zu Gast. Außerdem: Lachen & Weinen berichtet von der phil.cologne. Lachen & Schmelzen hat Sloterdijk gelesen. Es ist endlich mal wieder eine bunte Folge geworden. Den unverständlichsten Satz der Woche liefert Marx. Und Maxim Klusch hat für die 10. Popmusikanalyse die deutschen Charts gehört. — Sloterdijk reduziert in seinem neusten Essay die Geschichte unserer Spezies auf die Pyrotechnik. Auch in Zeiten, als Chinaböller noch nicht erfunden waren, fackelte der Mensch Sachen ab; vorwiegend Bäume. Und wir lernen, dass die Waldbrände gegenüber dem Weltbrand das geringere Übel wären. Doch wir brennen bereits seit 250 Jahren die Urwälder ungeheurer Vorzeiten ab, die wir eigentlich hätten in der Erde lassen sollen. Ob Sloterdijk dabei subtil eine FDP Agenda verfolgt (ja), ob es seine rechtsliberale oder ökolinke Wende bedeutet - hin oder her! Er bleibt der geistreichste, lebendste - also noch lebendige - Rhetoriker.

June 30, 2023

Folge 28: Tiefenökologie und Ökosophie

“Reiche Küste” - Arne Næss hätte es in Costa Rica gefallen. Das Land hat die weltweit höchste Biodiversität. © by Pigment-Ink“Reiche Küste” - Arne Næss hätte es in Costa Rica gefallen. Das Land hat die weltweit höchste Biodiversität. © by Pigment-Ink

Arne Næss’ ökophilosophische Programmatik

Lachen & Schmelzen widmet sich einem Grundlegungsversuch und -dokument der Ökobewegung. Der norwegische Philosoph Arne Naess entwarf 1972 die einflussreiche Tiefenökologie (er unterschied sie von der flachen Ökologie), mit deren Hilfe er eine ökologische Philosophie, die Ökosophie begründen wollte. Neologismen waren nicht seine Stärke. Und seine manifestartigen Thesen zum ecological fieldworker“, zum biospherical egalitarianism“ oder auch zur anti-class posture“ der Tiefenökologie wirken eklektizistisch. Dennoch formuliert er einiges, was noch heute zum festen Vokabular der Klimagerechtigkeitsbewegungen gehört. Die mangelnde Selbstständigkeit seines Ökophilosophischen Entwurfs verweist jedoch vor allem auf Konzepte, denen wir uns in Zukunft widmen werden.

On another note gestaltet sich die kapitalistische Landnahme im Meer schwierig. Das Element Wasser ist schlecht greif- und eingrenzbar. Über zwei Drittel der Erdoberfläche sind aber azzuro — die Erde steht im Grunde unter Wasser. Wie der Mensch des modernen Nationalstaats, dem Grenzen wichtig sind, damit umgeht, ist Gegenstand der Unterhaltung zweier Reisebekanntschaften auf hoher See; ein eigentümlich gegen den Wind Anschreiender und ein poetisch veranlagter Seerechtsexperte, der mit seinem wienerischen Dialekt ringt, informieren uns ganzheitlich und nachhaltig - von Atlas’ Spaerlebnissen bis zum Tieflandsockel.

May 18, 2023

Natur als Umwelt

Ein Beispiel für planvolle Weltgestaltung: Kohleabbau, wo früher der Hambacher Forst stand. © by Dinock90Ein Beispiel für planvolle Weltgestaltung: Kohleabbau, wo früher der Hambacher Forst stand. © by Dinock90

Objektivierte und subjektivierte Natur

Zu den verhängnisvollsten Missverständnissen und Vorurteilen der Neuzeit gehört das Verständnis der Natur als etwas dem Menschen Äußeres. Die als Objekt gedachte Natur, von der sich die Naturverklärung der Romantik vergeblich abzusetzen suchte, sieht den Menschen allein aufgrund seiner Fähigkeit, den Lauf der Natur zu beeinflussen, als von ihr emanzipiert an. Das ist die anthropologische Fassung desselben Missverständnisses. Als Urteil vereinseitigt es den Menschen. Denn er vereint beide Gegensätze: Er lebt als biologischer Organismus in Fundamentalabhängigkeiten gegenüber einer Vielzahl zufällig günstiger Bedingungen. Und er kann als Handelnder seine Umwelt- und Situationsgebundenheit transzendieren und planvoll Welt gestalten.

Hier tut sich die Frage nach einem dritten Weg auf, der die falsche Alternative von Objekt-Natur und Naturromantik von vorneherein umschiffen kann. Nicht umsonst versucht die Umweltbewegung seit dem ersten Bericht des Club of Rome im Gegenzug die Natur wieder als Subjekt zu etablieren. Als Umwelt ist die Natur selbst Akteurin; sie kann bedroht sein, wo der Mensch ihren Gang unterbricht, aber ebenso bedrohen, wo sie den Menschen fühlen macht, dass er selbst auch Natur ist und in einem komplexen Gewebe von Abhängigkeiten existiert. Wollte man die Natur vollends personifizieren, dann lachte sie sich als Umwelt scheckig darüber, dass der Mensch mit der Welt wie mit einem Vorgarten verfährt, den er nicht zu seinem Wohnraum zählt.

Die dritte Fassung des Missverständnisses ist also die: Die Natur als Objekt wird vom Menschen manipuliert, als stehe sie außer ihm, als sei er unabhängig von ihr, obwohl er mit ihr das manipuliert, in dem er ist und in dem er nur sein kann - als sei er keine Natur (er ist sie als Leib, wie Gernot Böhme sagt). Diesem Menschen der (europäischen) Neuzeit darf man suizidale Tendenzen unterstellen. Er sitzt in seiner Garage im Auto, die Abgase strömen durch die geöffneten Fenster in die Fahrerkabine und er beruhigt sich damit, dass der Motor ja schließlich draußen’ läuft. Im Ökosystem Erde ist es eng geworden - vermutlich kann der genetische Urmensch in uns, der den Raum der Erde nur als weite Totalität vorzustellen vermag, die doch von unserer konkreten kleinen Umgebung wohl kaum abhängig sein kann, diese Enge nur konstatieren, wo sie ihm konkret auf den Leib rückt. Solange er um sich herum genug physischen Raum (auch der wird stellenweise eng) hat, leugnet er die ökologische Enge.

Die Subjektivierung der Natur als Umwelt überzeugt jene Hartgesottenen nicht, die verhängnisvollerweise hängen geblieben sind im Mensch-Subjekt-Natur-Objekt-Schema. Sie werfen dem Bild einer agierenden Umwelt Spiritismus oder schlimmeres vor. Ihr Einwand ist triftig, wo die Umweltfreunde selbst in der Perspektive der dritten Person beschreiben wollen. Objektiv ist die Natur natürlich keine Akteurin. Wir brauchen hier die Beschreibung aus der Erste-Person-Perspektive, die uns unser Handeln als durch die Natur auf uns zurückwirkend beschreiben kann. Es ist dann nicht mehr so wichtig, ob die Rede von einem Subjekt Natur” oder Umwelt” objektiv betrachtet bloße Metaphorik ist. Denn unser Erlebnis wäre (phänomenologisch) treffender beschrieben und als Erfahrung sprachlich zugänglicher gemacht; mindestens insofern ist Natur nämlich Subjektivität, als dass wir selbst Natur sind. Dagegen versperrt der Subjekt-Objekt-Dualismus auch im Denken über die ökologische Krise uns weite Strecken des Weges zu unserer eigenen Lebenserfahrung.

Wie kommen wir aber angesichts dieser Krise ins Handeln? Nur indem wir ausgehen können von einem Welt- und Selbstbezug, der nicht länger ideenhistorisch verfärbt und verfälscht ist, sondern sucht und so akzeptiert, wie sich darbietet, was mir hier jetzt (nach Hermann Schmitz) so erscheint, dass ich es im Ernst nicht abstreiten kann. Auf die ökologische Krise selbst wirft das ein anderes Licht; sie erscheint beinahe als Nebenprodukt eines gestörten Verhältnisses zu uns selbst als Lebewesen. Ob an dieser Störung nun die Philosophen, die Zivilisation oder die Technik schuld sind und ob wir die Philosophen, die Zivilisation, die Technik oder uns’ therapieren, reformieren oder revolutionieren müssten, scheint ebenfalls nicht mehr die erste und drängendste Frage zu sein. Was zu tun ist, ergäbe sich aus dem richtigen Denken beinahe wie von selbst. Im Falle des Übergangs von der Natur” zur Umwelt” ergibt es sich womöglich schon aus dem richtigen Verständnis des Begriffs und seiner Geschichte (vor allem in der philosophischen Anthropologie Gehlens und anderer) heraus; Die Umwelt ist etwas, in dem wir nur handelnd bestehen können. Die Natur dagegen ist eine zunächst ungreifbare, aber auch unabhängige, mächtige Totalität, die sich zur Not selbst regulieren kann.

Erst zur Umwelt dagegen stehen wir als Menschen in einem Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit. Was die Natur uns nicht von sich aus schenkt, müssen wir gesetzt in unsere Umwelten diesen abtrotzen. Tun wir dies in einer Weise, die kurzfristigen Erfolg anhaltender Versorgung vorzieht, handeln wir natürlich schlicht unklug, aber auch in für das menschliche Wesen typischer Weise widersprüchlich; Wir sollten uns nicht verhalten, als seien wir unabhängig von dem Gesamtzusammenhang, den wir manipulieren - und wir können uns gar nicht so verhalten, weil wir es nicht sind. Doch der Mensch ist kein logischer Satz. Er ist beides, abhängig und mächtig, weshalb sich unsere Abhängigkeit von der Umwelt mittlerweile auch umgekehrt ausdrückt: Unsere Umwelt ist etwas, das nur, wenn wir richtig handeln, bestehen kann.

von JFMS

April 11, 2023

Folge 27: Dialektik der Freizeit

In dem Maße, in dem die Haut bräuner wird, erhält man selbst Waren-(d. h. falschen)charakter. © by Robyn JayIn dem Maße, in dem die Haut bräuner wird, erhält man selbst Waren-(d. h. falschen)charakter. © by Robyn Jay

Über Langeweile, Hobby-Ideologie und Pseudo-Aktivität

Kurz vor Frühlingsbeginn und dem allgemeinen Sprießen und Erblühen auch freizeitlicher Aktivitäten streuen Bruno und Jakob Pfeffer in die Suppe, bzw. Sand ins Getriebe all jener, die Freizeit für eine gute Sache halten. Der Protestler vom Dienst und Vorstand a. D. der bundesrepublikanischen Vereinigung der Spaßbremsen (“Fun ist ein Stahlbad”), Theodor W. Adorno, reicht uns Pfeffer bzw. Sand und weist uns in Richtung des Getriebes der Kulturindustrie, welches selbst dem unkritischsten Esser die Freizeit-Suppe versalzt, in aller Regel ohne dass er es bemerkt. Freizeit ist nämlich ohne Arbeitszeit nicht zu denken, und grundsätzlich verschieden vom eigentlich erst qualitativ bestimmbaren Begriff der Freiheit. Weiterhin sind zu scheiden Muße und Langeweile, wobei letztere die Verzweiflung markiert, zu ersterer nicht mehr die nötige Ernsthaftigkeit aufbringen zu können. Sinnstiftend sind weder Hobbies (wer sich ernst nimmt, erschrickt bereits ob der Frage nach ihnen) noch blinde Aktivität - beide füllen jedoch zu große Quanten unserer Freizeit. Dabei sollten wir keine Angst haben, vor Papa Adornos Augen nur als kulturkonservative Ernsthaftigkeitsfanatiker Gnade zu finden; im Gegenteil lässt sich auch ernste Blödelei betreiben, solange sie von freier Expression lebt und durch eigene Phantasie produziert wird. Was uns an Freizeitangeboten vorgesetzt wird, sollten wir jedoch in den allermeisten Fällen als Organisation unserer Freiheit ablehnen, was wie immer leichter gesagt als getan ist. Doch es lohnt sich: Wir können die Chance wahren auf echten Genuss und wirkliche Erlebnisse abseits der Eventkultur.

March 13, 2023

Folge XVI: Fortschritt

Ein Straßenschild in der Schweiz. © by Roman DeckertEin Straßenschild in der Schweiz. © by Roman Deckert

Lineare Geschichtsphilosophie und Wachstumsideologie

Einen Fuß vor den anderen setzen, lineares Schreiten in eine Richtung - das ist selten messbar und keineswegs alternativlos. Vielmehr ist es (gemeint ist: der Fortschritt) ein neuzeitliches Phänomen und zudem eines der europäisch-westlichen Kulturen. Ob als Geschichtsphilosophie, politischer Progressivismus”, Wissenschaftsparadgima oder Wirtschaftsaxiom (Wachstum) - der Fortschritt ist kein neutraler Begriff, stets ethisch aufgeladen und das meist zu unrecht positiv. Er befördert einen fragmentarischen Blick auf die Welt und plädiert für das Waltenlassen der Eigenlogik bestimmter gesellschaftlicher Sphären, egal wie viele Probleme sie an anderer Stelle hervorrufen. Wir erläutern außerdem Alternativen zum Fortschrittsparadigma; denn gerade mit Blick auf den Menschen selbst lässt sich eine radikale Fortschrittslosigkeit beobachten. Das Gleichbleiben nicht als Abwesenheit von Veränderung oder Entwicklung, aber als Absage an eine auf alles oktroyierte Fortschrittsfähigkeit sollte uns zu denken geben. Mit weniger Fortschritten hätten wir weniger Probleme produziert. Diese Spirale zu durchbrechen erfordert kulturellen Wandel.

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February 17, 2023