Gebete an die Langweile

Gaston La Touche: “L’ennui” (1893).Gaston La Touche: “L’ennui” (1893).

1

Langweile, Deine Macht ist groß: Du schmunzelst in den blauen Weiten des Himmels, der sich über touristische Kreuzfahrtschiffe wölbt. Du begleitest und leitest die Ozeanriesen und mobilen Spaßparadiese wie Charon seinen Totenkahn.

2

Langeweile, Du hast auf allen Partys, ja in den angesagtesten und nobelsten Clubs der Welt einen Gästelistenplatz und manchmal mischst Du Dich in das Dröhnen der Boxen oder die tausenden Breaks der DJs. Auch wenn man Dich mit allen Genussmitteln ­– Champagnerempfänge, effizienzgesteuerte Erotisierung, pausenlose Bassdiktatur — vertreiben will, findest Du einen Weg auf die Party. Denn Deine Schwester, die Kurzweiligkeit, kennt den Hintereingang eines jeden Clubs und wird ein enges Familienmitglied nicht vor der Tür stehen lassen. Wenngleich das Feiern nur ihr gewidmet ist, indem es das Leben in kurzweilige Augenblicke zersetzt, weiß sie, dass ihrer älteren Schwester ein großer Anteil dieser Gaben gehört, dass bei Vergrößerung ihrer Einflusszone die Macht ihrer großen Schwester proportional wächst, dass das Nachher und Danach aller Feste ihr gehört.

3

Langeweile, Du bist mächtig in deiner Unsichtbarkeit, Deiner Unberechenbarkeit. Oft hörst Du den Gesprächen der jungen Leute zu, die kaum wissen, wovon sie sprechen sollen und dann schlägst Du zu. Du nimmst den Schwung aus der Rede, Du nimmst den Gedanken ihre Zielrichtung, Du höhlst die Wörter in den Mündern aus, Du führst die Rede in die Leere. Du stiehlst Dich in die Fragen hinein, von denen wir die Antworten schon wissen.

4

Deine stärkste Rivalin, Langeweile, ist die Spannung. Sie ist das Lebenselixier einer kapitalistischen Kultur. Und sie ist diejenige Strategie, mit der sich der Kapitalismus die abstrakteste Größe des menschlichen Daseins, die Zeit nämlich, hedonistisch aneignet. Die spannende Zeit ist dem Lustprinzip unterworfen, sie arbeitet für das Lustprinzip, wirkt also luststeigernd und intensiviert den Augenblick und die Übergänge vom Vergangenen zum Gegenwärtigen und vom Gegenwärtigen zum Erwarteten. Die Zeit ist nicht länger indifferent und neutral, sondern sie wird zur Spur, zur Zündschnur, zum Präludium. Schmerzhaft wirkst Du, Langeweile, für den, der sich permanent von den Stromschlägen der Spannung elektrisieren muss. Ihm muss das Herausfallen aus der kurzweiligen Zeitform, in der die Zeit süßlich dahinschmelzt, zur bitteren Erfahrung werden. Der Albtraum einer spannungsaffinen Kultur ist die Langeweile und daher ist Deine Macht so groß, Langeweile.

5

Niemand will sich von Deiner Trägheit, von der Zähigkeit, mit dem du alles infizierst, anstecken lassen. Alle flüchten panisch deine Gegenwart, Langeweile. Und doch bleiben alle Maßnahmen gegen Dich Opfergaben für Dich. Die geplanten Wochenendausflüge, die anlasslosen Feste in den endlosen Sommern der Spaßgesellschaft, die zahllosen Festivals, die Bootspartys und die Clubnächte — sind sie nicht von einem weißen Strich durchzogen, bist Du nicht ihr Hintergrund? Klebt an Ihnen nicht der Kleister, mit dem Du alles bepinselst?

6

Wenn das organisierte Vergnügen, die kapitalistische Vermarktung des Spaßes am Spaß total ist, dann ist Deine letzte Fluchtstätte, Langeweile, erobert. Wie auf das letzte, frei lebende Exemplar einer aussterbenden Art wird man die Jagdhunde der Unterhaltung auf Dich hetzen bis man Dich zur Strecke gebracht hat und in einem Museum ausstopfen kann. Du wirst ein Erinnerungsstück an eine vergangene Epoche der Menschheit sein. Doch Deine eigentliche Macht entfaltest Du erst als Phantom, wenn Du objektiv-gesellschaftlich entfernt wurdest. Als Zerrbild beschattest Du eine sich selbst fremd gewordene Menschheit und verweilst gerade dann, wenn Du von den clownesken Chirurgen der Unterhaltungsindustrie wie ein Geschwür aus dem Gesellschaftskörper herausgeschnitten wurdest.

7

Langeweile, Deine Macht ist groß: Du veränderst die physikalischen Eigenschaften der Materie. Wenn sich die Stimmungen und Gemütslagen des Menschen auf einem Spektrum von Lichtfarben veranschaulichen lassen, so wirfst Du ein grelles Licht auf die umliegenden Gegenstände. Spitz ragen sie ins Bewusstsein. Die Dinge, die uns sonst nur Objekte unseres Willens sind, rücken sich als sie selbst in den Vordergrund, sie betonen ihre Autonomie und fordern uns heraus. Wenn sich die Stimmung der Langeweile wiegen lässt, dann nimmt das Gewicht von Subjekt und Objekt zu, schwer wiegt der Anblick im Auge des Gelangweilten und schwer ist die Aura der Gegenstände in Deinem grellen Licht. Wenn Du zuletzt Einfluss nimmst auf die Dichte der Dinge und die Konsistenz der Materie, dann verdichtest und verdickst Du sie. Die Materie formiert sich zur Phalanx gegenüber dem Bewusstsein des Gelangweilten, ihre Widerstandskraft wächst und die Gegenstände werden gegenständlicher: sie stehen uns entschiedener entgegen. Wir schreiten nicht mehr durch die Welt, als Gelangweilte waten wir durch das Weltwatt.

8

Langeweile, Entzugskur und Horrorszenario für den Schau- und Sensationslustigen. Regulator unseres Dopamin-Haushalts, kassenfreies, psychisches Neutralisierungsverfahren, verhasster Tempolimiter des modernen Lebens. Obgleich Du in den bestehenden Verhältnissen uns als Mangel und Abfall vom guten Leben vorkommst, bist Du die Erinnerung an das Menschliche in uns. Denn in dem hochgepeitschten Tempo des modernen Lebens musst Du wie die Vollbremse wirken, dabei liegt auf deinem Grund das Wesen der Zeit eher verborgen als in dem verwertenden, kalkulatorischen Umgang mit der Zeit.

9

Dass uns Menschen die Zeit zum Thema wird, dass wir sie qualitativ wahrnehmen können, von Länge und Kürze ihrer Weile sprechen, das unterscheidet uns von Tier und Gott. Die Handlungen der Tiere sind so sehr mit ihren Instinkten verschmolzen und diese Instinkte so sehr an das Jetzt gekettet, dass die Zeit als übergeordnete Einheit des Erlebens und Wirkens keine Bezugsgröße der Wahrnehmung darstellt. Tiere führen die Zeit aus, sie sind von der Gegenwart absorbiert. Götter sind der Zeit enthoben, ihr Wesen und ihre Wahrnehmung einzuspannen in das Trio von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bedeutete eine Einschränkung ihrer Allmacht und Allgegenwärtigkeit in allen Zeitformen. Der Gott ist gleich gegenwärtig und so entfällt für ihn die Unterschiedsbildung der Zeit, ihr genetisches, evolutives Wesen. Nähert sich nämlich das Zeitliche dem Ewigen, so konvergieren das Lang- und das Kurzweilige. Dem Gott wird die Zeit weder lang noch kurz, große Zeitabschnitte vergehen vor ihm wie kleinere, sie entfalten ihre Größe und Länge nicht, weil es kein endliches Bewusstsein gibt, an dem sie Maß nehmen könnten. Bevor sich der Gott langweilt, langweilt sich die Zeit. Der Mensch hingegen setzt sich bei seiner Geburt in ein Kanu, das den Strom der Zeit befährt. Er gleitet fortwährend vom Früheren ins Spätere, wandelt lebenslang auf Brücken, die über die Zeiträume geschlagen sind ans fremde Ufer der Zukunft. Die Stauung des internalisierten Zeitflusses, die die Langweile verursacht, ist nicht nur eine Problemstellung für das menschliche Bewusstsein, sondern sie stellt den Menschen: Während der Langeweile schlägt auch die Stunde der Selbsterkenntnis des Menschen — er erkennt sich als historisches Wesen, als Werdender.

10

Langeweile, Brutstätte des Gedankens, Glaserei der Reflexion! Du rollst den Teig unserer Gefühle, Gedanken und Empfindungen aus. Weil wir uns in deinen gähnenden Abgründen verlieren können, fangen wir an, uns zu besinnen. Du bringst eine Stille, in der sich die Sprache und der Gedanke leise regt und wahre Worte keimen können.

11

Langweile, weil die meisten Menschen der Selbstbegegnung, die Du Ihnen anbietest, ausweichen, fährst Du Deinen Stachel aus. Man kann Deine Bedeutung als Handlungsmotiv der Menschen gar nicht hoch genug veranschlagen! Statt uns zu langweilen, gehen wir einkaufen. Statt uns zu langweilen, rauchen wir eine Zigarette. Statt uns zu langweilen, schalten wir den Fernseher an. Statt uns zu langweilen, schauen wir aufs Handy. Statt uns zu langweilen, befragen wir unsere Mitmenschen, was sie am Wochenende erlebt haben. Doch wir drücken die Langweile nicht weg, sondern sie drückt uns in die Handlung. Das ist der Stachel der Langeweile.

12

Der Stachel der Langeweile gehört zum Geheimnis der Ware. Der Hochglanz der Neuware enthält das Versprechen, die Langweile zu vertreiben, die Welt und unser Leben zu einem anderen Ort zu machen, indem sie unser Ich austauscht. Es ist das verführerische, schwer abzulehnende Angebot, zum Anderen seiner selbst zu werden, indem man den Vorgeschmack des Lebens eines Anderen zu probieren bekommt. Der Schein der Ware gewährt uns die Möglichkeit, uns diesem Anderen, der ein Leben ohne Langeweile führt, anzuverwandeln. Das ist das Grundprinzip der Werbung: Ich ist ein Anderer. Letztlich gehört die Ware, wenn wir sie gekauft haben, nicht nur uns, sondern zu einem guten Teil Dir, Langeweile.

13

Zu fragen wäre, wie das Leben eines Menschen aussieht, der sich nicht langweilen muss, ohne Hinzunahme der schillernden Ware. Dieses Leben wäre nicht ohne Langweile, doch die Langweile würde keinen Stachel besitzen, sie könnte nicht mehr zustechen. Als eine Lebensbegleiterin hätten wir sie gezähmt. Die gedehnten Zeiträume ließen uns die Zeitlichkeit unseres Wesens erkennen und reflexiv durchsteigen, sie ließen uns reifen, die gerafften Zeiträume gäben uns das Gefühl der Verjüngung, in ihnen flössen wir dahin wie das sterbliche Leben.

von BWG

September 12, 2023

Folge 30: Ein Reiseführer für die Heimat

Alte Steine gehören zu den meist besichtigten Sehenswürdigkeiten. Vermitteln sie genug Fremdheit und atmen genug andere Atmosphäre, um eine Reise gelingen zu lassen? © by Berthold WernerAlte Steine gehören zu den meist besichtigten Sehenswürdigkeiten. Vermitteln sie genug Fremdheit und atmen genug andere Atmosphäre, um eine Reise gelingen zu lassen? © by Berthold Werner

Die Monotonisierung der Welt aus der Sicht des globalen Touristen

Hat der europäische Mensch in der Welt noch genug Vielfalt übrig gelassen, die er nach einem Langstreckenflug als Tourist besichtigen könnte? Mit dieser Leitfrage im Hinterkopf halten wir im Geiste des Menschheitsschutzes (nicht Klimaschutzes) Reiseformen für zukunftsfähig, die den geografischen Ortswechsel auf ein Minimum reduzieren - oder ihn ganz tilgen. Welchen Wert hat trotzdem die Fernreise? Warum reist man überhaupt und aus welchen Gründen sollte man auch heute noch reisen? Welche Fremdheitserfahrung ist falsch, welche ist unvermeidbar, und welche lassen sich wirklich nur in anderen Ländern machen? Wie aber entkommt man den gelenkten Massenströmen des globalisierten Tourismus, wie weicht man von der pauschalen All-inclusive Route erfolgreich ab? Und wie ist Herr Schmitz davon zu überzeugen, dass sein Leben mehr hergibt, als ein Billigflug nach Malle verspricht? Die Monotonisierung der Welt ist der Globalisierung oft und zurecht angelastet worden. Wir klagen sie erneut an, beklagen sie und können doch nicht anders, als uns nach Italien zu sehnen. Denn wir haben alle ein tiefes Bedürfnis nach Fremdheitserfahrungen. Der Tourismus raubt uns leider meist schon die Chance auf ebendas, was er selbst verkäuflich machen will. Jenseits der Sehenswürdigkeiten liegen aber trotz allem noch andere Pfade, in denen wir andere Leben beschnuppern dürfen, die uns unserer Heimat atmosphärisch entheben und uns so erheben können - wenngleich nur auf Zeit.

Lektüreempfehlung:
Gerade erschienen! Paramoderne. Anselm Feuerbachs »Gastmahl des Plato« und die Tragödie der Kunstreligion von Florian Arnold.

September 10, 2023

Die Verwohnzimmerung des Öffentlichen

Unser Privatleben ist portabel geworden. Trotz Beschleunigung hat uns das immobilisiert. © by Marc SmithUnser Privatleben ist portabel geworden. Trotz Beschleunigung hat uns das immobilisiert. © by Marc Smith

Oder: Vom mobilen Reich des Privaten

Wer in den Metropolen des Westens die U-Bahn nutzt oder in Deutschland gar das Wagnis eingeht, mit dem Fernverkehr der DB zu reisen, kann die Beobachtung machen, dass ein nicht unbedeutender Teil der Fahrgäste Kopfhörer und In-Ears trägt und meistens zusätzlich die Augen auf einen Bildschirm gerichtet hat. Wenn man bei einer längeren Reise mit der Schreibtischarbeit vorankommen will, dabei selbst in einem Bildschirm versinkend, kann man froh sein, neben diesen stillen Reisegästen einen Platz zu finden. Sie sind reserviert und unauffällig. Für Willkommen und Abschied begnügen sie sich mit einem einfachen Lächeln und machen sonst nicht viel Aufmerken von sich.

Kommt es während der Fahrt zu einem Zwischenfall, etwa zu einem Konflikt zwischen anderen Fahrgästen, kann man auf diese ruhigen Zeitgenossen nicht zählen. Wie sollten sie auch Notiz nehmen von dem, was um sie herum geschieht, wenn ihnen wie den Gefährten des Odysseus´ die Augen gebunden und die Ohren verstopft sind? Anders als den Gefährten des Odysseus´ erlaubt ihnen die verschobene und extern gebundene Aufmerksamkeit den Gesang der Sirenen aus nahfernen Medienwelten zu vernehmen. Sie sind ganz Ohr — nur nicht im Hier-und-Jetzt.

Diese Menschen können gar nicht eingreifen, wenn Zivilcourage gefragt wäre, denn sie sind in der gegenwärtigen sozialen Interaktion mehr Dinge als Akteure. Gleichzeitig kann man ihnen Mangel an Zivilcourage nicht vorwerfen, denn sie verpassen die Chance, sich für diese zu entscheiden. Wer es schon als Verstoß gegen die Zivilcourage rügen wollte, sich diese Chance zu nehmen, forderte von der liberalen Gesellschaftsmoral wahrscheinlich zu viel. Wie kann man, bevor man moralisiert, dieses Verhalten verstehen?

Seit der Verbreitung der Massenmedien ist das Hier-und-Jetzt ein uninteressanter Nebenschauplatz geworden, während Großteile der Aufmerksamkeit für das Dort-und-Dann bzw. das interessantere Hier-und-Jetzt abgezweigt werden. Die Quantifizierung der Aufmerksamkeit in reizüberfluteten Gesellschaften ist für diese medientechnische Umleitung und Neuverzweigung der Lebenswelt die ermöglichende Voraussetzung. Zugleich verhärtet sie diese Voraussetzung in der Folge. Denn mit einer Zunahme medialer Angebote und Zugangsweisen wird der Kampf um Aufmerksamkeit auf einer neuen Ebene fortgesetzt und vertieft.

Aldous Huxleys utopisch-dystopischer Roman Schöne neue Welt” kreiste um die These, dass in einer Konsumgesellschaft die Unterwerfung der Menschen unter die Interessen des Staates nicht durch Gewalt erzwungen werden muss (wie Orwell in seinem Gegenentwurf 1984” meinte), sondern sich durch die betäubende Wirkung des Vergnügens von selbst vollziehen würde. Die Menschen würden ihrer Entmündigung in die Arme tanzen, solange sie Ihnen Vergnügen bereitet. Die Massenmedien und die moderne Technik würden dieses Vergnügen bereitstellen und für eine Dauerbeschallung sorgen. Die Menschen würden ihre sukzessive Verblödung wie einen guten Cocktail genüsslich ausschlürfen. Die narkotisierende Wirkung des Genusses auf das geistige und kritische Vermögen des Menschen wird aggressive Staatspropaganda überflüssig machen. Denn die Wahrheit des bestehenden Systems auszusprechen, muss nicht per Gesetz verboten werden, wenn sich der Gedanke der Wahrheit im Schleier der permanenten Unterhaltung verflüchtigt und die Unterschiedsbildung von Lüge und Wahrheit in einer Grauzone medial produzierter Wirklichkeit verschwimmt. Ziviler Gehorsam wird indirekt, nämlich als Abfallprodukt einer totalen Medienwirklichkeit erzielt.

Sind unsere freundlich lächelnden Mitreisenden nicht ebenso gehorsam wie Huxleys Spaßjünger? Das bleibt eine Mutmaßung bis zu dem Moment, wo sich vor ihren Augen ein Unrecht ereignet, von dem sie kaum Notiz nehmen. Was sich auch während der Zugfahrt an sozialen Akten zuträgt, sie lassen es geschehen, nicht aus Böswilligkeit oder Misanthropie, sondern aus Unwissenheit und Bequemlichkeit.

Die Ablenkungsstrategien und Möglichkeiten der Komfortsteigerung sind heute ausgefeilter denn je, weil in ihrem Angebot die enorme Individualisierung der Warenwelt integriert ist. Was Huxley als den Beginn der Massenkultur und der Inhalte der Massenmedien wie eine große Sonnenfinsternis prophezeite, ist heute umso schwerer zu durchschauen, weil es den persönlichen Interessen so sehr entgegenkommt. Plattformen wie Youtube, Netflix und Amazonprime bieten eine Bandbreite an personalisierten Waren, die ein Echo zum individuellen Konsuminteresse erzeugen und so die individualisierte Bedürfniswelt des Verbrauchers präzise abbilden und verdoppeln. Man fühlt sich heimisch im selbst eingerichteten Netflix-Account, sitzt auf Reisen nicht nur auf dem DB-Platz, sondern mit einer Pobacke auf dem eigenen Sofa im Wohnzimmer. Für den Individualkonsum sind die Pforten des Lieblingsarthouse-Kinos und des Lieblingsmusikclubs virtuell rund um die Uhr geöffnet.

Zur Aktualisierung von Huxleys These muss man kein kulturpessimistisches Klagelied anstimmen, wie es 1985 der Medientheoretiker Neil Postamt in seinem Buch Wir amüsieren uns zu Tode” getan hat. Der Inhalt, ja sogar die Form des Mediums sind zweitrangig für die hier analysierte Wirkung auf das soziale Interaktionsverhalten der Konsumenten. Ob man oberflächlicher Unterhaltung oder philosophisch tiefsinnigen Debatten lauscht,– abgelenkt und wahrnehmungsbetäubt ist man ohnehin, im letzteren Fall sogar noch eher. Das hochindividualisierte Angebot der medialen Welt sorgt dafür, dass der soziale Raum parzelliert wird: Jeder reist von seinem Wohnzimmer in seinem Wohnzimmer in sein Wohnzimmer. Die Verwohnzimmerung der Öffentlichkeit hat ein neues Maß erreicht, was sich übrigens auch an der Mode ablesen lässt, die mehr und mehr Outfits standardisiert, wie wir sie tragen, wenn wir auf dem Sofa sitzen. Das Quittieren der sozialen Rolle im öffentlichen Raum, die zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber der Differenz von privat und öffentlich steht keineswegs im Zeichen einer kommunistischen Brüderliebe unter den Teilnehmern der Gesellschaft, sondern sie wurzelt im Gegenteil in einer latenten Menschenscheu. Der Wille zur Abschottung und zum Überblenden des Unbekannten und Fremden, zur Annexion des öffentlichen Raumes und seiner Eingliederung in das nunmehr mobile Reich des Privaten führte in letzter Konsequenz zu einer kokonartigen Verpuppung der Individuen. Sie würden in persönlich zugeschnittenen Komfortzellen schweben, in denen die Befriedigung eines jeden Bedürfnisses nur einen Knopfdruck entfernt wäre. Die medialen Großkonzerne wollen diesen Konsumententyp in der breiten Masse rekrutieren, ob ihnen das gelingt und ob der Mensch letztlich nicht mehr als ein lustsüchtiger Verbraucher ist, kann hier nicht entschieden werden. Mittelfristig ergibt sich aus den beschriebenen Entwicklungen eine kollektive Passivität im Hier-und-Jetzt.

Wenn Mark Zuckerberg zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit Blick auf seine größte Erfindung Facebook verkündete, wir lebten in einem postprivaten“ Zeitalter, dann ist die eigentliche Krux daran nicht, dass die neue, virtuelle Öffentlichkeit das Private auflöst, sondern dass das Private zum Öffentlichen wird, ja das Öffentliche ausfüllt. In der sozialen Wirklichkeit hat die virtuelle Verschiebung des Privaten ins Öffentliche den Effekt, dass alle mit Privatsachen beschäftigt sind. Die dialektische Wahrheit des postprivaten“ Zeitalters ist somit die Totalisierung des Privaten und ließe sich mit der Gegenformel eines postpublic“ Zeitalters beschreiben.

Soziologen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wollten die Öffentlichkeit und die Rolle des Individuums in ihr mit einer komplexen Rollentheorie als Maskenspiel, als das Agieren auf einer virtuellen Bühne verstehen. Die leeren Blicke, die von unseren freundlichen Fahrgästen für die Öffentlichkeit übrigbleiben, lassen die Idee eines Maskenspiels als Sozialromantik erscheinen. Die Theatermasken werden nur noch nachlässig und halbherzig aufgesetzt, sie verdecken weniger als sie enthüllen. Man schlüpft nicht mehr in eine öffentliche Rolle, in ein Kleid, die Angst, sich die Blöße zu geben hat nachgelassen, weil der strenge Blick der Öffentlichkeit nachlässt. Man plustert sich nicht mehr zur Amtsperson auf, sondern macht es sich in seiner Privatperson gemütlich, weil die anderen das ja auch tun. Nun könnte man das Weichspülen des Sittlichkeitsgebot öffentlichen Auftretens als Emanzipation begrüßen. Der Gürtel wird gelockert und man ist überrascht, dass es selbst in der liberalen Demokratie ein Gürtelloch gibt, das den Bund noch weiter macht. Auf der Strecke bleiben während unserer Zugfahrt hingegen eine Reihe von Erfahrungen, die frühere Generationen möglicherweise als verbindlich angesehen haben für das, was ihnen Leben“ hieß: Begegnungen, Gespräche und Bekanntschaft mit dem Unerwarteten, der Geheimzutat und Essenz echter Lust.

von BWG

July 11, 2023

Folge 29: Der Weltbrand

Schlimm, aber vergleichsweise harmlos: Ein Waldbrand. Hier brennen nämlich bloß gegenwärtige Bäume. © by John McColganSchlimm, aber vergleichsweise harmlos: Ein Waldbrand. Hier brennen nämlich bloß gegenwärtige Bäume. © by John McColgan

Mit Sloterdijk von prometheischen Peinlichkeiten zur globalen Brandstiftung

Interview-Coup! Slavoj Žižek war bei uns zu Gast. Außerdem: Lachen & Weinen berichtet von der phil.cologne. Lachen & Schmelzen hat Sloterdijk gelesen. Es ist endlich mal wieder eine bunte Folge geworden. Den unverständlichsten Satz der Woche liefert Marx. Und Maxim Klusch hat für die 10. Popmusikanalyse die deutschen Charts gehört. — Sloterdijk reduziert in seinem neusten Essay die Geschichte unserer Spezies auf die Pyrotechnik. Auch in Zeiten, als Chinaböller noch nicht erfunden waren, fackelte der Mensch Sachen ab; vorwiegend Bäume. Und wir lernen, dass die Waldbrände gegenüber dem Weltbrand das geringere Übel wären. Doch wir brennen bereits seit 250 Jahren die Urwälder ungeheurer Vorzeiten ab, die wir eigentlich hätten in der Erde lassen sollen. Ob Sloterdijk dabei subtil eine FDP Agenda verfolgt (ja), ob es seine rechtsliberale oder ökolinke Wende bedeutet - hin oder her! Er bleibt der geistreichste, lebendste - also noch lebendige - Rhetoriker.

June 30, 2023

Folge 28: Tiefenökologie und Ökosophie

“Reiche Küste” - Arne Næss hätte es in Costa Rica gefallen. Das Land hat die weltweit höchste Biodiversität. © by Pigment-Ink“Reiche Küste” - Arne Næss hätte es in Costa Rica gefallen. Das Land hat die weltweit höchste Biodiversität. © by Pigment-Ink

Arne Næss’ ökophilosophische Programmatik

Lachen & Schmelzen widmet sich einem Grundlegungsversuch und -dokument der Ökobewegung. Der norwegische Philosoph Arne Naess entwarf 1972 die einflussreiche Tiefenökologie (er unterschied sie von der flachen Ökologie), mit deren Hilfe er eine ökologische Philosophie, die Ökosophie begründen wollte. Neologismen waren nicht seine Stärke. Und seine manifestartigen Thesen zum ecological fieldworker“, zum biospherical egalitarianism“ oder auch zur anti-class posture“ der Tiefenökologie wirken eklektizistisch. Dennoch formuliert er einiges, was noch heute zum festen Vokabular der Klimagerechtigkeitsbewegungen gehört. Die mangelnde Selbstständigkeit seines Ökophilosophischen Entwurfs verweist jedoch vor allem auf Konzepte, denen wir uns in Zukunft widmen werden.

On another note gestaltet sich die kapitalistische Landnahme im Meer schwierig. Das Element Wasser ist schlecht greif- und eingrenzbar. Über zwei Drittel der Erdoberfläche sind aber azzuro — die Erde steht im Grunde unter Wasser. Wie der Mensch des modernen Nationalstaats, dem Grenzen wichtig sind, damit umgeht, ist Gegenstand der Unterhaltung zweier Reisebekanntschaften auf hoher See; ein eigentümlich gegen den Wind Anschreiender und ein poetisch veranlagter Seerechtsexperte, der mit seinem wienerischen Dialekt ringt, informieren uns ganzheitlich und nachhaltig - von Atlas’ Spaerlebnissen bis zum Tieflandsockel.

May 18, 2023

Natur als Umwelt

Ein Beispiel für planvolle Weltgestaltung: Kohleabbau, wo früher der Hambacher Forst stand. © by Dinock90Ein Beispiel für planvolle Weltgestaltung: Kohleabbau, wo früher der Hambacher Forst stand. © by Dinock90

Objektivierte und subjektivierte Natur

Zu den verhängnisvollsten Missverständnissen und Vorurteilen der Neuzeit gehört das Verständnis der Natur als etwas dem Menschen Äußeres. Die als Objekt gedachte Natur, von der sich die Naturverklärung der Romantik vergeblich abzusetzen suchte, sieht den Menschen allein aufgrund seiner Fähigkeit, den Lauf der Natur zu beeinflussen, als von ihr emanzipiert an. Das ist die anthropologische Fassung desselben Missverständnisses. Als Urteil vereinseitigt es den Menschen. Denn er vereint beide Gegensätze: Er lebt als biologischer Organismus in Fundamentalabhängigkeiten gegenüber einer Vielzahl zufällig günstiger Bedingungen. Und er kann als Handelnder seine Umwelt- und Situationsgebundenheit transzendieren und planvoll Welt gestalten.

Hier tut sich die Frage nach einem dritten Weg auf, der die falsche Alternative von Objekt-Natur und Naturromantik von vorneherein umschiffen kann. Nicht umsonst versucht die Umweltbewegung seit dem ersten Bericht des Club of Rome im Gegenzug die Natur wieder als Subjekt zu etablieren. Als Umwelt ist die Natur selbst Akteurin; sie kann bedroht sein, wo der Mensch ihren Gang unterbricht, aber ebenso bedrohen, wo sie den Menschen fühlen macht, dass er selbst auch Natur ist und in einem komplexen Gewebe von Abhängigkeiten existiert. Wollte man die Natur vollends personifizieren, dann lachte sie sich als Umwelt scheckig darüber, dass der Mensch mit der Welt wie mit einem Vorgarten verfährt, den er nicht zu seinem Wohnraum zählt.

Die dritte Fassung des Missverständnisses ist also die: Die Natur als Objekt wird vom Menschen manipuliert, als stehe sie außer ihm, als sei er unabhängig von ihr, obwohl er mit ihr das manipuliert, in dem er ist und in dem er nur sein kann - als sei er keine Natur (er ist sie als Leib, wie Gernot Böhme sagt). Diesem Menschen der (europäischen) Neuzeit darf man suizidale Tendenzen unterstellen. Er sitzt in seiner Garage im Auto, die Abgase strömen durch die geöffneten Fenster in die Fahrerkabine und er beruhigt sich damit, dass der Motor ja schließlich draußen’ läuft. Im Ökosystem Erde ist es eng geworden - vermutlich kann der genetische Urmensch in uns, der den Raum der Erde nur als weite Totalität vorzustellen vermag, die doch von unserer konkreten kleinen Umgebung wohl kaum abhängig sein kann, diese Enge nur konstatieren, wo sie ihm konkret auf den Leib rückt. Solange er um sich herum genug physischen Raum (auch der wird stellenweise eng) hat, leugnet er die ökologische Enge.

Die Subjektivierung der Natur als Umwelt überzeugt jene Hartgesottenen nicht, die verhängnisvollerweise hängen geblieben sind im Mensch-Subjekt-Natur-Objekt-Schema. Sie werfen dem Bild einer agierenden Umwelt Spiritismus oder schlimmeres vor. Ihr Einwand ist triftig, wo die Umweltfreunde selbst in der Perspektive der dritten Person beschreiben wollen. Objektiv ist die Natur natürlich keine Akteurin. Wir brauchen hier die Beschreibung aus der Erste-Person-Perspektive, die uns unser Handeln als durch die Natur auf uns zurückwirkend beschreiben kann. Es ist dann nicht mehr so wichtig, ob die Rede von einem Subjekt Natur” oder Umwelt” objektiv betrachtet bloße Metaphorik ist. Denn unser Erlebnis wäre (phänomenologisch) treffender beschrieben und als Erfahrung sprachlich zugänglicher gemacht; mindestens insofern ist Natur nämlich Subjektivität, als dass wir selbst Natur sind. Dagegen versperrt der Subjekt-Objekt-Dualismus auch im Denken über die ökologische Krise uns weite Strecken des Weges zu unserer eigenen Lebenserfahrung.

Wie kommen wir aber angesichts dieser Krise ins Handeln? Nur indem wir ausgehen können von einem Welt- und Selbstbezug, der nicht länger ideenhistorisch verfärbt und verfälscht ist, sondern sucht und so akzeptiert, wie sich darbietet, was mir hier jetzt (nach Hermann Schmitz) so erscheint, dass ich es im Ernst nicht abstreiten kann. Auf die ökologische Krise selbst wirft das ein anderes Licht; sie erscheint beinahe als Nebenprodukt eines gestörten Verhältnisses zu uns selbst als Lebewesen. Ob an dieser Störung nun die Philosophen, die Zivilisation oder die Technik schuld sind und ob wir die Philosophen, die Zivilisation, die Technik oder uns’ therapieren, reformieren oder revolutionieren müssten, scheint ebenfalls nicht mehr die erste und drängendste Frage zu sein. Was zu tun ist, ergäbe sich aus dem richtigen Denken beinahe wie von selbst. Im Falle des Übergangs von der Natur” zur Umwelt” ergibt es sich womöglich schon aus dem richtigen Verständnis des Begriffs und seiner Geschichte (vor allem in der philosophischen Anthropologie Gehlens und anderer) heraus; Die Umwelt ist etwas, in dem wir nur handelnd bestehen können. Die Natur dagegen ist eine zunächst ungreifbare, aber auch unabhängige, mächtige Totalität, die sich zur Not selbst regulieren kann.

Erst zur Umwelt dagegen stehen wir als Menschen in einem Verhältnis gegenseitiger Abhängigkeit. Was die Natur uns nicht von sich aus schenkt, müssen wir gesetzt in unsere Umwelten diesen abtrotzen. Tun wir dies in einer Weise, die kurzfristigen Erfolg anhaltender Versorgung vorzieht, handeln wir natürlich schlicht unklug, aber auch in für das menschliche Wesen typischer Weise widersprüchlich; Wir sollten uns nicht verhalten, als seien wir unabhängig von dem Gesamtzusammenhang, den wir manipulieren - und wir können uns gar nicht so verhalten, weil wir es nicht sind. Doch der Mensch ist kein logischer Satz. Er ist beides, abhängig und mächtig, weshalb sich unsere Abhängigkeit von der Umwelt mittlerweile auch umgekehrt ausdrückt: Unsere Umwelt ist etwas, das nur, wenn wir richtig handeln, bestehen kann.

von JFMS

April 11, 2023