Folge 21: Bildung als Microdegree?
Wir bilden uns und euch und fragen u.a. mit Humboldt nach Allgemein-, Halb- und Ganzbildung heute wie damals.
Wer ist man heutzutage eigentlich, wenn man statt eines Diploms 23 Microdegrees erworben hat? Was ist kanonisch und was ist ein Kanon? Fährt man heutzutage am Ende mit der Halbbildung noch ganz gut, weil bereits die viertel-/achtel-/sechzehntel-Bildung droht? Wollen uns hippe digitale Trends weismachen, Wissen sei dasselbe wie Bildung, und auch Wissen sei letztlich nichts anderes als Information? Das ist einer Ökonomisierung von Wissen und der Aushöhlung von Bildung allzu zuträglich. Am Ende braucht Bildung Zeit: Und die fehlt. Also verschiebt man Bildung aufs Wochenendseminar oder aufs Coaching, d. h., man will sie heute als Ware. Außerdem und nicht zuletzt hierarchisiert der Bildungsbetrieb, er regelt soziale Teilhabe und Zugang zu Wissen. - Übrigens: Welcher Humboldtbruder war der ältere? - Was war und gibt es noch Gelehrtentum? - Und weshalb tun sich Millennials und ihre unmittelbaren Vorläufer (wir) so schwer, sich für einen Lebensweg zu entscheiden?
Festzuhalten bleibt: Wir leben in einer der schnellsten Zeiten aller Zeiten.
Inwiefern Michel de Montaignes Philosophie skeptisch genannt werden kann
Es mag durchaus ratsam sein, sich der Frage ob (und, wenn ja, inwiefern) Montaigne ein skeptischer Philosoph war, so anzunehmen, wie er es getan haben könnte. Zweifellos (!) hätte er die nötige Vielheit der Perspektiven auf eine solche, in Stil und Wesen nach Klarheit verlangende Forschungsfrage betont. Wiewohl er auch keiner einzelnen der möglichen Perspektiven alleine vertraut hätte. Ebenso wäre dann auch die Beantwortung der Frage in mehrere Antworten zerfallen. Eine klare Aussage, die er im Zuge seines Nachdenkens sicherlich nicht gescheut hätte, würde deshalb noch keine klar bezogene Position gekennzeichnet haben. Über einen ähnlichen Gegenstand wäre andernorts, in anderem Kontext, unter anderen Gesichtspunkten ein anderes Urteil gefällt worden. Für Wahrheit- und Klarheitsuchende unter den Philosophen ist diese Position wahrscheinlich ein Albtraum. Eigentlich die Abwesenheit einer Position. Vielheit und Mannigfaltigkeit eines Urteils hieße in ihren Ohren nur die Vermeidung eines eigentlichen Urteils, mangelnde intellektuelle Strenge oder schlichtweg die geistige Unfähigkeit, die wirkliche Wahrheit ‚hinter‘, unter, über ‚den Dingen‘ aufzudecken. Hans Blumenberg beschreibt wie folgt die Sehnsucht solcher Philosophen in der Tradition Descartes’, die glauben „alles kann definiert werden, also muß es auch definiert werden, es gibt nichts logisch ‚Vorläufiges‘ mehr, so wie es die morale provisoire nicht mehr gibt.“1
Bei Montaigne scheint ein gänzlich anderes Ideal auf, an welches sich eine gänzlich andere Sehnsucht knüpft. Ein Ideal zunächst, welches Wahrheit nicht mehr versteht als die eine, die die wahre Wirklichkeit abbildet. Eines, das die intellektuelle Strenge ganz im Sinne Nietzsches ersetzt durch eine Tugend der ‚intellektuellen Redlichkeit‘. Redlich ist ein Denker wie Montaigne gerade darum, weil er die auf ihn einprasselnde Vielgestaltigkeit von Welt und Urteilen über die Welt nicht zwanghaft in Letztgültigkeiten ordnen und kategorisieren will. Redlich ist in diesem neuen Ideal für Philosophen gerade das Geltenlassen von Mehrerem, einander Widersprechendem, wobei dieses Vorgehen — so eine beinahe dogmatische, aber heimlich gehegte Hoffnung aller Skeptiker — der Welt, ‚wie sie wirklich ist‘, womöglich um einiges näher kommt als die unwandelbaren, unverwechselbaren, kohärenten, systematisierbaren Urteile der Dogmatiker. Montaigne scheint auch einem Helmuth Plessner schon zugerufen zu haben: „[D]ie Natur und selbst die menschlichen Dinge spotten nicht nur [den] Vorstellungen von Zweckmäßigkeit, sondern in weiten Bereichen der Zweckmäßigkeit überhaupt. Auch wäre es ungerechtfertigt, die Welt für logisch zu halten, in den Grenzen begrifflicher Korrektheit und Korrigierbarkeit.“2
Eine damit korrespondierende Sehnsucht sodann, die schon völlig immanent daher kommt und Jenseitiges außen vor lässt, ob es nun als irgendwie gearteter Untergrund des Diesseits Teil der Welt oder als Übergrund und andere Welt von ihr geschieden sein soll. Montaignes Ideal ist ein Lebensideal, eines der Bewältigung, der Bemeisterung; ein intellektuelles Ideal, welches ebenso biegsam und anpassungsfähig sein muss, wie das Leben, welches immer neue, immer andere, auch sehr individuelle Herausforderungen an den menschlichen Geist stellt: „Wie die Natur uns Füße zum Gehen gab, so gab sie uns auch Klugheit, uns im Leben zu leiten; nicht eine spitzfindige, stattliche, hochfahrende Klugheit, wie jene sie ausklügeln; aber geschmeidig und heilsam am rechten Ort verrichtet sie trefflich, was die andere in Worten sagt […].“3
Doch um nach viel Vorrede zum Werk zu schreiten: Die antike Gegenüberstellung der Skeptiker gegen die Dogmatiker, dies wäre nun eine Perspektive, unter welcher Montaigne sowohl eindeutig den Skeptikern zuzuordnen wäre, als auch nicht. Sehr wohl, insofern er keine geschlossene Weltsicht hat, welche sich auf Unveränderbares stützt, in welches Montaigne Einsicht zu haben behaupten würde; andererseits auch nicht, insofern er keine radikale erkenntnistheoretische Skepsis im antiken Sinne vertritt. Einer solchen gegenüber wäre er vielmehr ebenfalls — skeptisch. Sinnvolle, und in diesem Sinne ‚wahre‘, Erkenntnisse sind durchaus möglich, wobei das Verständnis von ‚Wahrheit‘ als in gewissem Sinne relativierbarer, mindestens falsifizierbarer Vorläufigkeit, die nicht zugleich ihr eigener Endzweck ist, bereits durch und durch skeptisch geprägt ist; eine Umprägung, die als allen dogmatischen Hoffnungen konkurrierendes Paradigma spätestens seit Nietzsche, Freud und anderen wieder einmal philosophische Grabenkämpfe ausgelöst hat. Viele analytisch geprägte Philosophen oder auch Naturwissenschaftler würden Montaigne daher gar nicht erst als einen Skeptiker, sondern gleich als ‚Irrationalisten’ abtun.
Doch Montaigne schränkt den Anspruch und die Macht unserer Vernunft nur ein, spricht sie ihr nicht ab; sieht die Vernunft als eine menschliche Zugangsweise zur Welt, eine ausgezeichnete gar, gleichwohl eine mit limitierten Möglichkeiten und unüberwindbaren Grenzen: „[D]ie Vernunft hat mich belehrt, daß eine Sache so unbedenklich als falsch und unmöglich abtun sich des Vorzugs vermessen heißt, die Grenzen und Schranken des göttlichen Willens und der Macht unserer Mutter Natur im Kopfe zu haben, und daß es keine namhaftere Dummheit in der Welt gibt, als diese auf das Maß unserer Geisteskraft zustutzen zu wollen. Wenn wir das, was unserer Vernunft nicht zugänglich ist, Ungeheuer und Wunder nennen, wie viele bieten sich dann nicht beständig unserem Blick?“4
Auch im methodischen Sinne vertritt Montaigne keine Exklusivität irgendeines Zugangs zu den Problemen, derer er sich annimmt, genau so, wie er im engen epistemologischen Sinne eine Erkenntnis der Wahrheit eines Gegenstandes für unwahrscheinlich, im Einzelfalle auch gar nicht erstrebenswert hält. Ein Motto, welches wiederum Nietzsche aufnehmen sollte, bei seinem Fragen nach dem Wert eines Wahrheitsideals, welches sich um die Lebenspraxis nicht schert: „[U]nter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrthum sein.“5 Auch methodisch jedenfalls hält Montaigne beispielsweise seine feinsinnige psychologische Betrachtungsweise nicht für die einzig legitime, welche konsequenterweise auch nie als Methode ausgeführt wird, obwohl sie immer wieder zum Einsatz kommt. Deutlich wird dieses Primat der erfolgreichen Orientierung im Leben selbst etwa in Montaignes Essai „Über die Gewohnheit …“, in der sich ein politisch/religiöser Konservatismus vordergründig wie eine Art kontraintuitive Schattenseite des sonst heiteren, unkonventionellen Skeptikers präsentiert: „Die Öffentlichkeit hat sich um unsere Art, zu denken, nicht zu scheren; aber das übrige, wie unsere Handlungen, unsere Arbeit, unser Glück und unser eigenes Leben, sind wir schuldig, ihrem Dienste zu widmen und den allgemeinen Ansichten anzubequemen […]. Denn das ist die Regel aller Regeln und das allgemeine Gesetz, daß ein jeder die Gesetze des Ortes beachte, an dem er steht“. Auch eine versteckte Ironie ist hier natürlich nicht auszuschließen, zumal Montaigne sich ausgerechnet des Sokrates als Beispiel eines Vorzeigebürgers bedient, der in seiner Version trotz der Ungerechtigkeit der Athener Obrigkeit den Giftbecher aus Respekt vor dem nun mal geltenden Gesetze getrunken haben soll. Doch scheint er in der Tat der Ansicht zu sein, dass es „höchst zweifelhaft [ist], ob sich ein klarer Gewinn bei der Änderung eines überkommenen Gesetzes finden läßt, sei es, wie es wolle, wie Nachteil aus seiner Umwälzung entsteht“6.
Welche Skepsis aber drückt sich aus in dieser politisch konservativen Haltung, der auch sein äußerlicher Gottesglaube zuzuordnen ist? Eine Skepsis gegenüber allem Neuen, dem man sich unter Aufwand von Lebensenergie erst wieder anpassen müsste? Sicher hätte Montaigne es uns nicht übel genommen, richteten wir hier ein wenig psychologische Spekulation einmal gegen ihn, wonach wir denn seine gehobene gesellschaftliche Stellung als einen möglichen Grund erkennen würden, der ihm den Wert einer Umwälzung aller bestehenden Verhältnisse als sehr zweifelhaft erscheinen lassen haben könnte. Einen geeigneteren Ansatz liefert uns Montaigne aber vielleicht selbst, und zwar erneut einen psychologischen; wir finden ihn nämlich beinahe psychoanalytisch vorwegdenkend über die Ursprünge unserer ‚Gewohnheiten’ spekulieren, und aus dieser Warte zeigen sie ein ganz anderes Gesicht: „Ich finde, daß unsere größten Laster schon in der zartesten Kindheit ihren Knoten in unsere Seele legen und daß unsere vornehmlichste Erziehung in den Händen der Säugammen liegt.“ In der Kindheit also vermutet Montaigne an dieser Stelle „die wahren Samen und Wurzeln der Grausamkeit, der Tyrannei und des Verrats“, die, einmal „unter den Händen der Gewohnheit“7 große Macht über den Menschen gewinnen können, und schließlich als Gewohnheit selbst „auf Schritt und Tritt die Regeln der Natur vergewaltigen.“8 Vielleicht, so könnten wir mutmaßen, steht für Montaigne auch hier die Selbst(er)kenntnis des Menschen im Vordergrund, genießt hohe Priorität vor allen weltlichen Ordnungen, welche nur eine Folge der Ersteren sind, und solange wie jene als nachgeordnete und äußerliche ebenfalls unverstanden bleiben müssen.
Schon gar nicht ist Montaignes Skepsis übrigens ‚methodisch‘ in einem descarteschen oder kantischen Sinne, als rein hypothetisches Starkmachen eines imaginierten, dämonischen Feindes, den es auf dem (von vorneherein feststehenden) Weg zur ersehnten wirklichen Letztgültigkeit und gesicherten Erkenntnis noch zu überwinden gelte. Möchte man Montaigne hier irgendwie einordnen (was nicht nötig ist), so käme man schon eher weiter mit einer alltagssprachlichen Dimension des Wortes ‚Skepsis‘; als skeptischer Mensch begegnet Montaigne allem, was er vorfindet, wobei der Gegenstand allein mal ein deutlicheres, mal ein rein relatives, mal gar kein Urteil zulässt.
Es scheint also eine unentschiedene Sache zu bleiben, die Frage nach dem spezifischen Skeptizismus Montaignes. Doch dies mag zum einen bereits im Wesen des Skeptizismus als offenem, ‚freien‘ Denken liegen, zum anderen auch eine individuelle Stärke des Denkers Montaigne sein. Bei ihm ist unter anderem zu lernen, warum ‚unentschieden‘ keinen intellektuellen Fehlschlag bedeuten muss, sondern, dem erweiterten Wortsinne gemäß, auch der Sache nach ‚Ausgeglichenes‘, ‚Ambivalentes‘, ‚Vieldeutiges‘ zu Tage gefördert haben kann. Philosophiegeschichtlich muss noch einmal betont werden, gegen wie viele dogmatische Einflüsse der Theologie und der Philosophie er sich seiner Zeit noch erwehren musste. Als lebensorientiertem, ergebnisoffenem, gewohnheitskritischem Geist; welcher Weg sollte einem solchen attraktiv oder überhaupt als begehbar erscheinen, wenn nicht ein skeptischer? Insbesondere Metaphysik und Ethik steckten zu Montaignes Zeiten tief im dogmatischen Sumpf fest. Wie andere nahm er daher sich selbst als Quelle und Ausgangspunkt, nur eben sich in seinem Alltag, man ist versucht zu sagen: in seiner Lebenswelt, d. h. nicht ‚sich‘ als idealisiertes, abstraktes Ich, das erforscht werden soll: „Ich studiere mich mehr als irgend einen Gegenstand. Das ist meine Metaphysik, das ist meine Physik.“9
Heute wirkt gerade seine ethische Skepsis noch immer befruchtend auf uns, und das heißt hier wieder: Skepsis allen vermeintlich endgültigen, metaphysischen Werten und Handlungsmaximen gegenüber, nicht eine grundsätzliche Skepsis wider der Möglichkeit sinnvoller ethischer Aussagen oder Erkenntnisse per se. Mit seinen Verweisen auf die psychologische Onto- und Phylogenese unserer Werte und ihrer gesellschaftlichen Manifestation ragt sein Denken bis in die Gegenwart, als wirkmächtige Figur der Philosophiegeschichte steht er als Alternative zu Descartes am Ausgang des neuzeitlichen Denkens. Sein Wunsch nach Linderung oder gar Heilung der Leiden menschlicher Existenz scheint noch immer nachzuhallen: „Die Menschen […] werden von den Meinungen gepeinigt, die sie von den Dingen haben, nicht von den Dingen selbst. Es wäre ein großer Gewinn für die Erleichterung des elenden menschlichen Loses, wenn man diesen Satz durchgängig als wahr erweisen könnte.“10
von JFMS
BLUMENBERG, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt 2019, S. 7.↩︎
PLESSNER, Helmuth: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens, (in: Gesammelte Schriften VII), Frankfurt am Main 2016, S. 360.↩︎
MONTAIGNE, Michel de: Essais Bd. III, Von der Erfahrung, Zürich 1953/2000, S. 853.↩︎
Ebd.: I, Es ist Torheit …, S. 215.↩︎
NIETZSCHE, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, § 121.↩︎
MONTAIGNE, Michel de: Essais I, Über die Gewohnheit …, Zürich 1953/2000, S. 166.↩︎
Ebd.: I, S. 157.↩︎
Ebd.: I, S. 156.↩︎
Ebd.: III, S. 852.↩︎
Ebd.: I, Daß unsere Empfindung des Guten und Bösen …, S. 90.↩︎
Folge 20: Essayismus in der Philosophie
In unserer 20. Folge lesen wir Adorno und fragen nach dem Essay und seiner Form.
Auch wenn es irgendwie mit Montaigne begann und wir den Podcast gerne als Anti-Platonismus charakterisieren würden, führt eben doch kein Weg vorbei an der Rhetorik, was schlussendlich bedeutet, dass wir jedenfalls im Dialog nie ganz von Platon loskommen.
Nebenbei erklärt sich so, warum wir ideengeschichtlich schon immer auf der richtigen Seite standen, und welche Seiten das überhaupt sind (man darf unserer Aufteilung gerne skeptisch begegnen).
Wo sich Sophistik und Philosophie die Hand reichen (müssen), da bleiben wir ein Gespräch. Und das auch in Zukunft!
In dieser Folge legen wir uns auch selbst Rechenschaft ab und bekennen: Unser Podcast besteht aus essayistischem Schweifen.
Russische Identität: Folklore und schwere Waffen
von Til Eyinck
Die russische Invasion der Ukraine und der seitdem andauernde Krieg sind nicht aus dem luftleeren Raum hereingebrochen. Obschon der mittlerweile geläufig gewordene Ausdruck “Putins Krieg” womöglich auch in der Absicht unermüdlich aufgegriffen wird, jene Menschen in Russland rhetorisch zu protegieren, die Distanz zur Haltung ihrer Regierung wahren, so ist doch den meisten Beobachtern des Konfliktes wohl bewusst, dass er nicht nur das Resultat des Befehls eines einsamen Entscheidungsträgers ist.
Dass in der Entstehung dieses Krieges die russische Innen- sowie Außenpolitik, die Nato-Osterweiterung, die Machtkämpfe Chinas und des Westens irgendwie relevante Größen sind, dürfte außer Frage stehen. Dass hingegen selbst russische akademische Rezeption von Folklore als Brandbeschleuniger dieses Konfliktes gewertet werden kann, mag den meisten vielleicht entgangen sein.
In der russischen Zeitschrift “Nauchnyi Dialog”, deren Name sich mit ‘Wissenschafts-Dialog’ übersetzen lässt, erscheinen seit Jahren vermehrt in literaturwissenschaftlicher Manier verfasste Artikel, die auch in Folkloregesängen eine genuin russische Identität erkennen wollen.
So manch einer denkt, wenn er mit dem Begriff “Folklore” konfrontiert wird, womöglich sogleich an wohlgeordnete Chöre, die eine für Touristen inszenierte, exotisierende und bestenfalls halbwegs historisch akkurate Aufführung eines ansonsten als längst verschollenen geltenden Kulturgutes präsentieren. Einige denken vielleicht auch an Flötenmusik aus den Anden. Tatsächlich ist die Bedeutung des Begriffes nicht leicht einzufangen - einen guten Anfang macht man, wenn man sich vor Augen hält, dass Folklore meistens dann vorliegt, wenn der Autor oder die Autorin des jeweiligen (nicht zwangsläufig musikalischen) Werkes unbekannt sind.
Zusammengesetzt ist das Wort “Folklore” aus den Wörtern “Wissen” und “Volk”. Es steckt in Folklore das “Wissen eines Volkes”, so eine weitverbreitete These, weil Menschen Gesänge oder Gedichte dann wiederholen - und dadurch überliefern - , wenn sie etwas daran finden, das ihnen wichtig ist. Wenn sie also aus dem Herzen singen und ihre Seele sprechen lassen, sagt diese romantische Perspektive. Was aus freien Stücken überliefert wird, so die Argumentation, muss demnach selbst wertvoll und anthropologisch interessant sein, da es in Form gedichtgewordener psychologischer Tatsachen die Seele der Menschen, im Zweifel eines ganzen Volkes, widerspiegelt.
Dass Folklore aber auch aus ganz anderen Gründen, z.B. aus Vermarktungsgründen, Zufall oder aus einer politischen Entscheidung heraus überdauern kann und dass sie, je nachdem, wer sie rezipiert, gar nicht repräsentativ für eine ganze Bevölkerung ist, wird im Zuge einer Glorifizierung ihrer Inhalte hingegen schlicht unterschlagen. Jene nach wie vor weitverbreitete Seelen-Spiegel-Begründung hinkt aber nicht nur auf argumentativer Ebene, sie lässt sich auch allzu leicht in nationalistischer Ambition instrumentalisieren:
Der 2020 in Nauchnyi Dialog erschienene Aufsatz “Features of the Folk Ideas - Reflection about Fate in the Signs and Superstitions of Social groups in Vladivostok” versucht beispielsweise über eine stichprobenartige Bürgerbefragung die Rezeption von russischem, folkloristischem Gedankengut zu deuten. Die Studie selbst wird bereits sehr früh im Text mit den folgenden Worten begründet: “Die Relevanz dieser Arbeit ist gegeben durch ein wachsendes Interesse an verschiedenenArten der regionalen Umsetzung der gesamtrussischen Tradition, an den Besonderheiten der Funktionsweise traditioneller Folkloregattungen im 21. Jahrhundert und an verschiedenen Formen der Darstellung des nationalen Weltbildes”. Ganz ähnlich verhält es sich mit weiteren dort erschienenen Artikeln, die sich mit Folklore beschäftigen.
Verborgene Tradition
In Anbetracht der Ereignisse des Ukrainekrieges ist womöglich der Inhalt des 2017 erschienenen Aufsatzes “Gogol or Provincial in the Capital: from Ukraine to St. Petersburg” besonders sprechend. Obwohl es sich hierbei nicht um eine Untersuchung von Folklore handelt, findet die Spiegel-Hypothese auch hier ihre Anwendung; bereits im Abstract, der vorangestellten Zusammenfassung, liest man dort von Gogols künstlerischer Entwicklung, die angeblich mit einer Art geografisch-biografischer Metapher aufzuschlüsseln sei: “[…] von der ‘provinziellen Dikanka’ zum universellen Horizont. Der Artikel untermauert die These, dass Petersburg im Gegensatz zu Kleinrussland Gogols Optik bricht (und formt)”. Der aus der Ukraine (Kleinrussland) stammende Gogol habe also das eigentliche Russland nötig gehabt. Dieses Mindset bestätigt sich dann im Artikel selbst.
Das Motiv der Invasion findet sich unmittelbar darauf wieder - jedoch ist es die Ukraine, die einfällt; ein rhetorisch seltsam verklausuliertes Zitat teilt dem Leser mit: “Es wird [im Artikel] darauf hingewiesen, dass der Schriftsteller [Gogol] sich jedoch nicht schuldig macht: Man kann (mit Piksanow) vertreten, dass es eine ‘Invasion der ukrainischen Welle mit Gogol an ihrer Spitze’ in der russischen Kultur gegeben hat”.
Die aus solchen Textbeispielen sprechende Idee einer verborgenen, beinahe mystischen Tradition, die nur darauf wartet, in folkloristischen bzw. literarischen Artefakten erst diagnostiziert, dann rekonstruiert und darüber glorifiziert zu werden, wird aber in aller Regel den Artefakten selbst nicht gerecht. Und welches Beispiel böte sich hier zur Illustration besser an, als ein Ausschnitt einer Erzählung Gogols, die ausgerechnet mit dem Versuch beginnt, dem Leser vorzugaukeln, ihre Inhalte seien allesamt tradierter Natur?
Gleich den Titel seiner Geschichte “Der Wij” kommentiert Gogol nämlich mit einer Anmerkung, in der geschrieben steht: “Der Wij ist eine kolossale Schöpfung der Volksphantasie. […] Diese ganze Erzählung ist eine Volksüberlieferung. Ich wollte an ihr nichts ändern und gebe sie hier fast ebenso schlicht wieder, wie ich sie gehört habe”.
Unnachgiebige Arbeit am Text führte allerdings zu der Einsicht, dass “Der Wij” kein eigentliches Volksmärchen, sondern vor allem das Resultat der Kreativität und Zitierfreudigkeit Gogols ist und dass die einleitende, ihre volkstümliche Herkunft beteuernde Behauptung unter dieser neuen Prämisse nicht einfach zum Täuschungsversuch mutiert, sondern als eine Form der Leserführung aufgefasst werden kann. Damit die ukrainischen sowie russischen Lieder, Gedichte und Texte nicht endgültig zum Politikum werden, bedarf es kritischer Rezipienten.
Autor
Til Eyinck ist Romanist und promoviert zur Sinnkonstitution fiktionaler Rede. Er spielt und singt Folk mit János e Fiammetta.
Der Artikel erschien zuerst im Feuilleton der Welt unter dem Titel Russische Identität: Der Folklore-Krieg.
Folge IX: Debatten-Rundschau zum Krieg in der Ukraine
In zwölf Häppchen haben wir uns thematisch geordnet und hoffentlich zielführend dem Absolutismus der Wirklichkeit gestellt und uns die relevantesten schriftlichen Beiträge zum Krieg Russlands gegen die Ukraine durchgelesen. Unsere Gedanken dazu in der großen Debattenrundschau zur Ukraine. Nicht zuletzt suchen wir mit Alexander Kluge den Möglichkeitsraum im Nebel des Krieges und im Nebel der Gedanken, welchen der mediale Rausch im Kriegsfall schnell auslösen kann.
Hier im Blog gleich Til Eyincks Beitrag zur Folklore und schweren Waffen lesen!
Folge 19: Von Rollen, die wir spielen
Rollenspiel und Maskenball, Goffmanns ausgelutschte Rede vom unumgänglichen Theater des Alltags - und im Rheinland auch noch der Karneval. Padrone Plessner führt uns durch die Anthropologien von Schauspieler und Imitation und am Ende hoffentlich heraus aus der Zwickmühle zwischen Selbstbeherrschung und Exzess.
Wie wir es versäumen konnten, von Jim Carrey und der einzig wahren Maske zu sprechen, das weiß bloß der absolute Geist. Zwei Ergebnisse jedenfalls konnten wir zusammentragen: Der Affe kann nicht nachäffen. Und wir sind die Maske!