Folge XI: Aggression

Ein Beispiel arterhaltender innerartlicher Aggression. © by Charles J. SharpEin Beispiel arterhaltender innerartlicher Aggression. © by Charles J. Sharp

Warum der Mensch auf den Menschen losgeht

In der ersten exklusiven II. Folge” denken wir das vielleicht entscheidende anthropologische Fundament von Krieg und Kampf: die Aggression. Es kommt zum Konkurrenzverhalten zweier Männchen vor laufendem Mikrofon. Während also die Theorie zur Waffe für praktische Konflikte wird, vollziehen wir mit Konrad Lorenz (Das sogenannte Böse, 1963) nach, wie in der Entwicklungsgeschichte der Menschheit das begriffliche Denken den Menschen über seine schwache natürliche Bewaffnung weit - zu weit - hinausgehoben hat. Eine performative Folge also. Gepaart mit der fehlenden Tötungshemmung gegenüber Artgenossen, die den Raubtieren vorbehalten bleibt, ist dem Menschen durch seine künstliche Bewaffnung das willentliche Töten erst ermöglicht. Unser Freund Sigmund Freud derweil spricht dem Menschen ohne Kultur die Nächstenliebe tendenziell ab (warum gerade er das tut, können wir heute auch nicht mehr verstehen), weswegen er seine aggressiven Triebe kulturell hemmen muss, was ihn wiederum krank macht, und ihm die Nächstenliebe stärker noch verunmöglicht, als sie ihm im hypothetisierten Naturzustand jemals verunmöglicht war. So pessimistisch beschließen wir nur fast, denn auch Freud kann irren. Wenigstens laufen wir in der Sackgasse der Aporie nicht gegen die Wand, sondern sind bemüht, das Einbahnstraßenschild umzudrehen. Wir wissen schlussendlich: Wir bräuchten eine filigrane Beleidigungskultur.

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September 4, 2022

Folge 22: Der Vater aller Dinge

“Guernica” von Pablo Picasso, 1937.“Guernica” von Pablo Picasso, 1937.

Vom Kriege und seiner Verhütung

Ist der Krieg eine organisierte Zerstörung mit schaffendem Potenzial? Müssen wir dem Krieg das Kondom überstülpen? Wir halten schon qua Zeitgenossenschaft (Massenvernichtungswaffen) wenig von solcher Romantisierung, deutlich weniger teils als unsere mittlerweile historisch gewordenen Autoren Clausewitz und Nietzsche, zu deren Zeiten man noch in mannhafter’ Duellsituation sich gegenüberstehend kämpfen konnte. Bereits desillusioniert ist Sigmund Freud, der den Ersten Weltkrieg miterlebte und bis an den Rand des zweiten lebte, von dessen Vorwehen er bereits in die Flucht getrieben wurde. Umso erstaunlicher, dass gerade er nicht nur sachlich und analytisch über den Krieg nachdachte, sondern auch moralfrei. Moralfreier dabei als selbst sein großer Vordenker Nietzsche.

September 4, 2022

Die Stasis in Milet

Der Tempel der Artemis in Ephesos. © by Thanh SoledasDer Tempel der Artemis in Ephesos. © by Thanh Soledas

von Marius Goldhorn

Am Anfang:
Bei Homer erscheint das Wort Stasis noch nicht.
Der Trojanische Krieg war ein anderer Krieg.
Die Zeit des Trojanischen Krieges war eine Vor‑Zeit.
Star Wars.
Bei Homer gilt die Rechtsordnung noch als sakral.
Bei Homer gibt es kein Geld.
In der Zeit des Trojanischen Krieges waren die Götter noch sichtbar.
Sie standen auf dem Schlachtfeld und am Strand.
Die Götter konnten essen und trinken.
Aber nicht so, wie sie lachten oder sich ärgerten, sich liebten oder sich vergewaltigten.
Wenn die Götter aßen oder tranken, nahmen sie einen Körper an.
Und wenn sie einen Körper hatten, begannen sie ihn zu pflegen.
Sie rasierten sich. Wuschen sich. Cremten sich ein: um die Bedürfnisse des Körpers zu spüren, die sie ja nicht wirklich verspürten.
Sie taten das aus Ehrfurcht vor den Menschen.
Nach zehn Jahren Krieg der Welten vor Troja entschied Zeus, Gott des Lichtes, des Tages und der Gastfreundschaft, den Menschen die Geschichte zu geben.

Viel, viel später:
Herodot, der Schriftsteller des Säkularisierungsprozesses, der die Abreise der Menschheit in den Abgrund der sozialen Realität und des Geldes mit den Worten Das ist die Darlegung der Forschung des Herodots von Halikarnassos verfolgte und dabei ein obsessives Interesse an äthiopischen Männern entwickelte, erzählt diese Geschichte von der Stasis bei den Ioniern:
Nachdem Krösus alles verloren hatte, fielen die griechischen Städte an der kleinasiatischen Küste unter persische Verwaltung. Der Marionettentyrann von Milet, Aristagoras, entschied sich mit dem persischen Gouverneur Artaphernes zu paktieren, um die Insel Naxos einzunehmen. Die gesamte Mission war ein unfassbares Debakel. Zurück in Milet entschied Aristagoras, um seiner sofortigen Entfernung als Herrscher durch die persischen Oberverwalter zu entgehen, alle Ionier — die Bevölkerung Kleinasiens, die sich als Griechen verstanden — zur Rebellion gegen den persischen Großkönig Dareios I. anzustacheln. Der Ionische Aufstand — finanziert von einer westlichen Union, angeführt von Athen, die sich durch das Vorrücken der Perser bedroht sah — markierte den Beginn des Griechisch‑Persischen Krieges, einem zehn Jahre währenden Weltkrieg. Die Weltstadt Ephesos, Stadt des Weltwunders der Artemis, lag 80 Kilometer nördlich von Milet.

Genau zu dieser Zeit:
Heraklit, der Ionier aus Ephesos, träumt von Fischen.
Zehntausend silberne Sardinen mit starren Augen.
Ein monströser Schwarm wälzt sich in einem konzentrierten Tanz, im kalten Wasser.
Heraklit öffnet die Augen.
Er schaut an die Decke.
Er atmet ein.
Seine Nase ist verstopft.
Mir ist schlecht.
Er hustet.
Oh Gott.
Er erkennt an den Geräuschen des Tages: Es ist schon spät.
Heraklit richtet sich auf, stellt die Füße auf den kalten Marmorboden. Er stützt die Ellenbogen auf den Oberschenkeln ab. Seine Knie sind spitz. Er lässt den Kopf hängen.
Oh Gott.
Wasser.
Wein.
Heraklit schaut zur Seite in die Kissen, die er im Schlaf vertrieben und gestapelt hat, und sieht seiner Katze in die goldenen Augen.
Der Schlaf der Katze beginnt jetzt. Ihr Tag ist die Nacht.
Heraklit hustet, versucht nicht zu kotzen und streichelt die Katze.
Heraklits erster echter Gedanke, der ihn kurz den miserablen Zustand seines Körpers vergessen lässt, geht an die absurde Tatsache, dass ihm gestern jemand in der Bar erzählt hatte, in manchen Neubauten in Ephesos gäbe es Fußbodenheizung.
Eine kühle Luft kommt durch das Fenster.
Durch den vom Wind sanft bewegten, neuen Türvorhang, auf dem Helenas Geburt aus einem Ei abgebildet ist, hört Heraklit Stimmen: Alle sind schon wach.
Wie spät ist es?
Heraklit steht auf, wackelt zum Vorhang, schiebt den Samtvorhang zur Seite, schaut in den Flur und sieht seinen Mitbewohner Hermodoros.
Guten Morgen, Heraklit.
Wie spät ist es?
Mittag.
Mir ist schlecht.
Die Schlacht von Lade ist verloren.
Wie?
Die Perser haben gewonnen. Milet wurde eingenommen. Die Männer werden ermordet. Die Frauen werden vor den Augen der Kinder vergewaltigt. Die Kinder versklavt. Die jungen Männer kastriert.
Heraklits zweiter echter Gedanke des Tages geht an den Tod.
Heraklits dritter echter Gedanke geht an den Krieg.
Heraklits vierter Gedanke geht an den Menschen.
Heraklits fünfter Gedanke geht zurück an die Sardinen.
Mir ist schlecht.
Wie?
Ich vertrage keinen Alkohol mehr. Ich ertrage diese Stadt nicht mehr.
Wir sind jetzt alt. Du darfst nicht mehr trinken, als seiest Jugendlicher.
Ich geh ins Bad.
Noch einen Blick zurück in sein Zimmer zu den bestickten Kissen auf dem Bett.
Ein Stich hinter den Augen.
Im Bad wäscht er sich den Kopf, gibt sich Olivenöl in die Haare und auf sein Gesicht.
Sowas Absurdes wie Fußbodenheizung.
Er hat dunkle Haare, torfschwarz wie das Leben.
Zurück in seinem Zimmer stellt er sich auf den Balkon.
Er sieht über die Zypressen, Säulen im Garten des Nachbarn.
Die Hecken: Die Akribie der Gärtnerin des Nachbarn macht ihn aggressiv.
Er betrachtet das Moos auf dem Vordach.
Ein Pelikan steigt auf.
Milet.
Nebel des Krieges.
Das gibt Krieg.
Das wird der Westen nicht erdulden.
Das wird ein Weltkrieg.
Alle werden in den Krieg ziehen.
Blutbad.
Heraklit beobachtet den schweren Flug des Pelikans.
Mit weichen Knien geht Heraklit die Treppe hinab.
Er fühlt sich wie ein alter Handwerker.
Ich bin nicht alt.
Heraklit ist nicht alt.
Heraklit ist unter 33.
In der Küche trifft er Myson, der in einen Topf starrt, dem Porridge beim Quellen zusieht.
Guten Morgen.
Guten Tag.
Willst du etwas?
Nein danke, ich habe eine Vision von Sardinen.
Sardinen?
Sardinen sind das einzige, was mir jetzt helfen kann.
Hast du von Milet gehört?
Ja, gerade.
Was sollen wir tun, Heraklit?
Wie: Was sollen wir tun?
Ja: Was sollen wir tun?
Wir können uns umbringen angesichts dieser Menschheit. Das ist das einzige, was wir tun können. Wir können uns umbringen. Mit jedem Schritt.
Heraklit nimmt einen Schluck Tee.
Nein, besser nicht.
Heraklits Magen krampft.
Was machst du jetzt?
Was ich jetzt mache?
Was machst du heute?
Ich brauche Sardinen.
Heraklit läuft in den Garten des Nachbars hinein, an den Zypressen vorbei, die im Wind winken.
Bäume könnten aussehen wie Menschen. Tun sie aber nicht. Sie sind keine Menschen.
Gott sei Dank.
Heraklit geht einen kleinen Hang hinab, es ist eine Abkürzung zum Hafen.
Der Sohn der Nachbarn vernagelt die Fenster.
Heraklit grüßt ihn mit einem Nicken.
Heraklit läuft einen Trampelpfad. Er tritt einen Zedernzapfen zur Seite.
Wenn er kotzen müsste: Hier könnte er kotzen.
Eigentlich sind ja alle Pfade Trampelpfade.
Er spürt den Herbst, kühler Wind in den Ästen.
Wenn er es schafft, durch das kleine Waldstückchen zu kommen, ohne zu kotzen, hat er es geschafft. Wenn er unter Menschen ist, kann er sich zusammenreißen.
Hoffentlich.
Hoffentlich gibt es Sardinen.
Er kommt hinter dem Athleten‑Denkmal raus, der sich Öl, Schweiß und Staub vom Körper schabt.
Heraklit biegt nach rechts ab, eine Wohnstraße und geht sie weiter zur unteren Stadt.
Kinder spielen mit Terrakotta‑Kugeln, in die Swastikas geritzt sind.
Ein Wurfspiel, das Heraklit nicht versteht.
An den wilden Weinreben, die an den roten Häusern klettern, fressen die Wespen.
In der Straße hat ein neuer Bäcker aufgemacht: Theraion, der Aufbackbrötchen verkauft.
Die kühle Luft. Der Wind. Die Bewegung der Muskeln. Der Beginn des Herbstes. Am Theater liest Heraklit ein Plakat. Das Konzert einer Gruppe aus Zypern sei wegen der aktuellen Lage abgesagt.
Auf dem Platz vor der Celsus‑Bibliothek sieht er Melanthippe. Sie ist seine beste Freundin. Aber er ist zu fertig, um Kontakt aufzubauen.
Sardinen.
Heraklit schaut nicht zu Memnons Taverne, als er an ihr vorbeikommt. Das Motto von Memnons Taverne ist der Einzug der Äthiopier in den Krieg vor Troja. An die Wände der Bar ist der Tempel von Abu Simbel gemalt und Zeichen, die nubische Schriftzeichen darstellen sollen. Aber Heraklit weiß, dass das keine nubischen Schriftzeichen sind, sondern ausgedachte Zeichen, die aus der Fantasie des Barbesitzers entsprungen waren, der einen merkwürdigen Faible für Äthiopien hatte, eigentlich aber aus einem Vorort von Ephesos kam. Auf den Tischen standen Datteln und auf dem Boden sammelten sich die Dattelkerne.
Die Erinnerungen an gestern Nacht blitzen auf, während Heraklit wegschaute. Weiterging.
Eine neue Welle Übelkeit: Das Licht war dunkelrot und die Leute um ihn herum unterhielten sich und waren freundlich zueinander und manchmal waren Gesten der Liebe dabei und Heraklit schwieg und trank schweigend immer weiter. Jetzt war er froh, Freunde zu haben. Er wollte nicht sprechen. Als die Sonne aufging, war er so betrunken, dass er einen Hund gestreichelt hatte und dabei fast wusste, wie es ihm heute gehen wird.
Am Artemis‑Tempel beobachtet Heraklit die Irren, die Artemis anrufen.
Als würde das jetzt helfen.
Als würden die Götter zuhören.
Als hätten sich die Götter nicht abgewandt.
Als hätten sie nicht das Leben der Menschen überhaupt möglich gemacht.
In dem Moment, als sie sich abwandten.
Oh Artemis, Göttin der Jagd, Göttin des Waldes, Göttin der Wildtiere, Göttin der Geburt und des Mondes, Hüterin der Frauen und Kinder, Olympische Göttin, Tochter des Zeus, Tochter der Leto, Zwillingsschwester des Apollon, beschütze Milet, unsere Zwillingsstadt, die du …
Heraklit wendet sich ab.
Am liebsten will er schreien: Artemis, Göttin der Hierarchie des Mordes.
Am Hafentor spürt Heraklit, dass die Bewegung seinem Körper guttut. Er geht durch das purpurne Osttor.
Er blickt in den Himmel.
Vielleicht wird sich die Sonne heute doch noch zeigen.
Das wäre gut.
Er denkt: Die Sonne ist neu an jedem Tag. Aber die Menschen sind zu allen Zeiten gleich.
Noch beten wir die Denkmäler an. Weil wir uns selbst anbeten.
In 2.500 Jahren werden wir die Ruinen anbeten. Weil wir uns selbst anbeten.
Wir werden die Geschichte anbeten. Weil wir uns selbst anbeten.
Er hört den Hafen.
Er hört die Schiffsbauer singen.
Er riecht gegrillte Sardinen, obwohl sie noch zu weit entfernt sind.
Endlich steht er vor dem Zum Pelikan.
Er tritt hinein.
Es riecht nach gegrillten Sardinen.
Es riecht nach gegrillten Sardinen‑Spießen auf offenem Feuer.
Er grüßt den Koch.
Gibt es Sardinen?
Ja, natürlich gibt es Sardinen.
Zwei Sardinen‑Spieße, bitte.
Natürlich, für hier oder zum Mitnehmen?
Für hier.
Das macht 12,50.
Oh Gott.
Entschuldigung, ich habe mein Geld vergessen.
Oh Gott.
Heraklit eilt heraus.
Heraklit steht vor dem Zum Pelikan.
Das Adrenalin der Scham unterdrückt die Übelkeit.
Er riecht das Salz des Ozeans.
Algen. Menschen. Dreck.
Ich muss zurück.
Heraklit eilt durch das Hafentor.
An der Celsus‑Bibliothek sucht er Melanthippe.
Vielleicht könnte er sich Geld leihen, aber er sieht sie nicht.
Diesmal geht er über die Agora zurück.
Nicht noch mal an dem Nachbarssohn vorbei.
Die Menschen stehen auf der Agora. Informieren sich. Sind in Aufruhr. Manche Männer schreien:
Milet gefallen und geraubt.
Die müssen vor Gericht.
Kriegsverbrecher stoppen.
Wir müssen die Demokratie verteidigen.
Hier entscheidet sich das Schicksal der Demokratie.
Körper der Exekutierten übersähen die Straßen.
Man zählt nicht mehr die einzelnen Toten, man schätzt sie in Gewicht.
Der Westen hat die Gräuel verurteilt. Sie werden auf das Schärfste reagieren.
Wie soll die Welt auf so etwas reagieren?
Als nächsten sind wir dran. Als Nächstes wird Ephesos hingeschlachtet.
Heraklit geht die Hauptstraße hinauf. Er beschleunigt immer mehr, als würden in Ephesos magnetische Kräfte wirken.
Es muss später Mittag sein, die Beamten kommen aus den Büros.
Er biegt scharf links in die Gasse ein, die zu seinem Haus führt.
Sie ist leer. Eine Böe bläst etwas Staub auf.
Heraklits Beine werden kalt.
In der Küche steht Myson und spült ab.
Schon zurück?
Ich hab mein Geld vergessen.
Myson lacht.
Heraklit trinkt einen Schluck Tee.
Er geht die Treppen hoch zu seinem Zimmer.
Er stellt sich auf den Balkon und atmet einmal tief ein.
Er setzt sich aufs Bett und streichelt seine Katze.
Dann sinkt er langsam hinab.
Schaut an die Decke.
Tod ist alles, was wir im Wachen sehen und Schlaf, was im Schlaf.
Er schließt die Augen. Es ist die Zeit der Stasis, die Zeit des Krieges. Seit fünf Jahren ist Krieg. Noch Jahre wird er nicht vergehen: Nebel des Krieges.
Es ist diese Zeit: die des Todes, der alle erfasst und in dem nichts entsteht.
Nichts lebt. Alles stirbt.
Nur die Natur wälzt sich weiter.
Schlaf der Katze.
Heraklits Atem wird ruhiger.
Gleich wird er wieder träumen.

Autor
Marius Goldhorn ist Autor und Dichter. 2020 erschien sein Roman Park“ in der edition Suhrkamp und der Gedichtband Yin“ im Korbinian Verlag.

“Die Stasis in Milet” erschien zuerst an dieser Stelle im Magazin STILLSTAND des Goethe-Instituts und wurde in Zusammenarbeit mit Das Wetter - Magazin für Text und Musik beauftragt und erstellt.

© by Goethe-Institut USA

September 3, 2022

Folge X: Sekundärliteratur

Ein Buch erklärt ein Buch erklärt ein Buch erklärt ein Buch.Ein Buch erklärt ein Buch erklärt ein Buch erklärt ein Buch.

Texte über Texte und alles was noch darüber geschrieben wird. Sie quält und hilft uns: Sekundärliteratur.

Nach Bildung, Fort-, Weiter- und Halbbildung beschäftigen wir uns mit zweiten und dritten Blicken auf das Primäre. Und zwar das wirklich wahre Erste: Den Text. Der Gegenstand des ersten Textes: Die Welt, die Realität - alle möglichen Gegenstände, außer! - andere Texte. Die Sekundärliteratur eben schaut auf andere Texte, und produziert in diesem Zuge wieder: Texte. Geisteswissenschaft als Kunst der Paraphrase? Schulphilosophie als Kommentieren und Kommentieren der Kommentare? Was bedeutet Autorschaft, und fehlt es an Autoren? An letzter Stelle steht ein Halbzitat: Es gibt nur gute und schlechte Bücher!

Wir verabschieden uns hiermit bis Anfang September in eine kleine Sommerpause! Bleibt uns erhalten und erleidet keinen Hitzeschlag.

July 13, 2022

Das Latinum - Ein Bildungsrelikt?

Können Sie Latein?Können Sie Latein?

Vom Nutzen und Nachtheil des Latinums für das Leben

„‚Uebrigens ist mir Alles verhasst, was mich bloss belehrt, ohne meine Thätigkeit zu vermehren, oder unmittelbar zu beleben‘. Dies sind die Worte Goethes, mit denen, als mit einem herzhaft ausgedrückten Ceterum censeo, unsere Betrachtung über den Werth und den Unwerth der Historie beginnen mag.“1 Ist heute das Latinum als bloss belehrendes“ im Sinne Goethes zu sehen? Sicher nicht. Als Sprache vermehrt auch Latein die Thätigkeit“ ungemein, belebt, wenn gekonnt, den Geist. Es ermöglicht Verstehen, wie jede Sprache, aber insbesondere für die Kultur, Ereignis- und Ideengeschichte, die dem heutigen Europa zugrunde liegen. Bietet einen Zugang, gewissermaßen. Einen Zugang zu Vergangenem, das für das Heute erschlossen werden muss. Ja, Latein lebt gar gegenwärtig fort, als schöpferische Disziplin, die nicht nur forscht, sondern dichtet, vorträgt. Doch soll es um die Frage nach dem Latinum gehen, und darum, ob es Pflicht sein sollte für Studenten der Philosophie.

Sprache ist Instrument, wobei jede Sprache dem Sprecher etwas bestimmtes ermöglicht. Keine Sprache ermöglicht in der Philosophie alles. Das heißt, je mehr man versteht, desto mehr versteht man. Der privilegierte deutsche Muttersprachler hat einen breiten, unverstellten Zugang zur Philosophie. Versteht er dazu Englisch, kann er sich weiträumig im Denken des 20. und 21. Jahrhunderts bewegen und wichtige Sekundärliteratur zu allen Epochen und Denkströmungen nutzen. Nun gibt es aber keine Sprache, in der im Westen für so lange Zeit, so heterogen und so reichs-, nations- und staatsübergreifend, so interdisziplinär gedacht wurde wie im Lateinischen. Sagen wir mal von Cicero und Lukrez bis Gassendi und Grotius umspannt das Lateinische gut 1700 Jahre Philosophiegeschichte; 1700 Jahre Primärtexte. Im deutschen Bildungssystem soll heute die ‚Institution‘ Latinum Lateinkenntnisse zertifizieren. Mit dem Latinum als Zugangsvoraussetzung zum Studium der Philosophie (und Geschichte, und anderer Fächer) wird so gleichzeitig eine — verständliche - Gewichtung innerhalb des Faches vorgenommen; jeder (!) Student soll sprachlich einen Zugang zu 1700 Jahren an Primärtexten haben. Ein sekundärer Grund, der für eine Latinumpflicht spricht: An vielen Schulen, die des Autors eingeschlossen, gibt es keinen Philosophieunterricht und ist die Auseinandersetzung mit der römischen Geschichte stark beschnitten. Latein dagegen wird immer noch großflächig gelehrt; unter anderem wegen und in Vorbereitung auf Universitäten, die für die meisten Geisteswissenschaften noch immer das Latinum verlangen. Die oft einzige Möglichkeit Caesar oder Cicero in der Schule tatsächlich einmal zu lesen oder sich mit der Mythologie der Antike auseinanderzusetzen, ist der Lateinunterricht. Das kommt momentan ca. 700.000 Lateinschülern zu gute.

Um sich die Philosophiegeschichte tiefgreifend und vollständig zu erschließen, braucht man heute wohl keine Lateinkenntnisse mehr. Dennoch widerstrebt es einem, das Latinum für obsolet zu erklären. Ein Philosoph ohne Lateinkenntnisse, selbst ein fähiger Philosoph, verursacht doch ein Unbehagen. Wie ein Mathematiker, der nicht über 100 hinaus kopfrechnen kann. Einer, der sich im Kern der eigenen Disziplin völlig verlässt auf die Vorarbeit anderer. Vielleicht ist es aber auch zu begrüßen, dass die Arbeitsteilung in der Philosophie weiter voranschreitet, und lateinische Übersetzungen mehr und mehr zur reinen Spezialistentätigkeit werden, auf die dann andere, die keine Zeit ihres Studiums mehr durch Lateinkurse verlieren, effektiver aufbauen können. Für diejenigen, die Latein demnach nicht mehr können müssten, wären eventuell doch vorhandene Lateinkenntnisse nach Nietzsche kostbarer Erkenntnissueberfluss und Luxus“ und müssten uns ernstlich, nach Goethes Wort, verhasst sein“.2

Dieses Ergebnis erscheint jedoch als ein ungewolltes Zugeständnis an das effektivitätsbestrebte Bachelor- und Exzellenzstudieren. Man sollte es, gerade heute, lieber mit Humboldt halten, und ausnahmsweise einmal die ‚bewährte Tradition‘ verteidigen. Humboldt ärgerte sich schon zu seiner Zeit: Der Mathematiker, der Naturforscher, der Künstler, ja oft selbst der Philosoph beginnen nicht nur jetzt gewöhnlich ihr Geschäft, ohne seine eigentliche Natur zu kennen und es in seiner Vollständigkeit zu übersehen, sondern auch nur wenige erheben sich selbst späterhin zu diesem höheren Standpunkt und dieser allgemeineren Übersicht.“3 Unter ‚allgemeiner Übersicht‘ ist eben kein gleichmäßig detailliertes Wissen eines ganzen Faches zu verstehen; wer aber, um den Duktus aufzunehmen, die eigentliche Natur der Philosophie erkennen will, und dieses Fach mit all seiner Geschichte zu überblicken in der Lage sein möchte, für den ist doch eine gewisse Kenntnis einer ihrer Hauptsprachen unabdingbar.

von JFMS


  1. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Stuttgart 2009, S. 5.↩︎

  2. Ebd.↩︎

  3. Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, in: Schriften zur Bildung, Stuttgart 2017, S. 5.↩︎

June 30, 2022

Das Latinum - Ein Bildungsrelikt?

“Der Schatten der Geschichte hat den einstigen Schimmer dieser Sprache verschlungen.”“Der Schatten der Geschichte hat den einstigen Schimmer dieser Sprache verschlungen.”

Vom schwachen Trost der lateinischen Sprache

In manchen Schulen wird das Latinum noch gelehrt und wer sich später im Studium an den Geisteswissenschaften versucht, kommt ohnehin nicht um die tote Sprache“ herum. Jahrhunderte zurück war es eine Sprache, die man im regen Verkehr auf den vielbefahrenen Straßen Roms vernehmen konnte. Und nicht nur dort: das Imperium Romanum verbreitete seine Kultur und Sprache von Spanien bis an den Rhein, von der wettergrellen, großen Insel bis ins heiße Karthago, von den vorderpersischen Archipelen bis ins umkämpfte Gallien. Erobert wurden diese Länder von Soldaten, die i.d.R. nicht größer als 1,70 Meter waren und in wohlüberlegten Ordnungen und Formationen auch den ärgsten Feind in die Flucht schlagen konnten. Wer überleben wollte, musste sich beugen, dem wurden die Hände gefesselt und er wurde mit der Kultur der Eroberer gegeißelt. Unters Joch oder Tod, das war die Wahl des Verlierers. Der Lorbeerkranz tragende Sieger schreibt künftig dessen Geschichte und setzt gewissenhaft Punkt und Kommata im Leben des Barbarus“. Das ist, sofern er der lateinischen Sprache nicht mächtig ist, der Titel, den er von den Römern erhält, ganz im Sinne der alten Griechen. Und sie sind es, die das Fundament des römischen Kulturbaus bilden; in all seinen Feinheiten und Verzierungen, seinen Torbögen und gepflasterten Straßen, seinen Tempeln und Aquädukten, gleichwie seinen Dichtungen und Banketten, ja seinen Weintrauben und gebratenen Wachteln. Mithilfe einiger eifriger Kulturvermittler wie Cicero, Seneca und Sueton, hauchte man den römischen Statuen und Bürgern den griechischen Lebensatem ein, wenngleich, wie Vergil dichtet, ohnehin trojanisches Blut in den Adern der ersten Weltbürger floss. Aber wozu in der Zeit der Pax Augusta verweilen? Was geschah in der Folge dieser Blütezeit? Wer bestellte die Felder und wer säte das Korn, welches so prächtig in den Speichern der Kaiser und Könige gereift war? Ein Korn, das ein Ovid, ein Horaz und ein Quintilian geformt, ja bald überformt hatten. Viele waren da, die nach dem Gestus dieser wohlgeschliffenen, logisch, formalisierten Sprache lechzten. Die sich an ihrer Gewaltigkeit, die noch von den urzeitlichen Kräften kündigt, die im attischen Geiste gegenwärtig waren, ergötzten. Und so mancher von ihnen verstand es, das allzu Formale in die Form des Schönen umzugießen, die logischen Verästelungen der lateinischen Sprache derart zu verflechten, dass ein duftender Kranz daraus wurde. Doch Denker wie Augustinus oder Thomas setzen sich diese Blumenkränze nicht auf das eigene Haupt, wie es die großen Redner im Senat zu tun pflegten. Sie opferten diese Kränze einem Gott der Liebe und der Gnade, einem unsichtbaren, vergleichsweise anonymen Gott, von dessen Allmacht weder im Bild noch in der Sprache Zeugnis abgelegt werden konnte. Die Anhänger dieser Religion brachten es fertig, den gesamten lateinischen Sprachkörper in seiner Üppigkeit und Saftigkeit auf dem grauen Boden der Kontemplation und Meditation trockenzulegen. Die Scholastiker suchten nicht den schönen Klang oder das feine Wort, hier galt es, fromme Gedanken in schlichte und dienliche Bezeichnungen zu bringen, eine reine Abbildfunktion der Realität, alles für einen höheren Zweck im Jenseits vorgesehen.

Wenige Jahrhunderte später gab es dann ein erneutes Aufleuchten der alten Zeit. Man formte und genoss wieder. Man spielte und lernte im Latein und liebäugelte mit den schönen Farben der alten Meister. Von diesem Zeitpunkt der Wiedergeburt versiegt das lateinische Wort jedoch in der Geschichte, weicht immer mehr dem Französischem und muss sich heute damit abfinden nur noch als Schmuck oder Accessoire verwendet zu werden.

Nun sitzt der emsige discipulus heute in der Latein AG und will den fremd anmutenden Wörtern eines rhetorischen Genies ihren Sinn entlocken. Wozu? Was erhofft er sich? Wobei soll es ihm helfen? Der Schatten der Geschichte hat den einstigen Schimmer dieser Sprache verschlungen. Nichts als Staub und Asche hinter den Buchstaben. Was soll der Lebende sich für die Toten interessieren? Ihre Sprache wird er ja doch nie gänzlich begreifen. Aber was sage ich? Habe ich denn recht? Solcherlei Gedanken begleiten den discipulum anfangs, dann vertieft er sich in den Text. Wenn er sich dem lateinischen Wort anvertraut, sieht er weiße Segel in der Bucht Karthagos, die Äneas mahnen, nach Rom aufzubrechen und hinter dem nächsten Satz steigt ein weiteres Bild auf: Eine rote Toga wellt sich an der Schulter.

von BWG

June 30, 2022