Die Stasis in Milet

Der Tempel der Artemis in Ephesos. © by Thanh SoledasDer Tempel der Artemis in Ephesos. © by Thanh Soledas

von Marius Goldhorn

Am Anfang:
Bei Homer erscheint das Wort Stasis noch nicht.
Der Trojanische Krieg war ein anderer Krieg.
Die Zeit des Trojanischen Krieges war eine Vor‑Zeit.
Star Wars.
Bei Homer gilt die Rechtsordnung noch als sakral.
Bei Homer gibt es kein Geld.
In der Zeit des Trojanischen Krieges waren die Götter noch sichtbar.
Sie standen auf dem Schlachtfeld und am Strand.
Die Götter konnten essen und trinken.
Aber nicht so, wie sie lachten oder sich ärgerten, sich liebten oder sich vergewaltigten.
Wenn die Götter aßen oder tranken, nahmen sie einen Körper an.
Und wenn sie einen Körper hatten, begannen sie ihn zu pflegen.
Sie rasierten sich. Wuschen sich. Cremten sich ein: um die Bedürfnisse des Körpers zu spüren, die sie ja nicht wirklich verspürten.
Sie taten das aus Ehrfurcht vor den Menschen.
Nach zehn Jahren Krieg der Welten vor Troja entschied Zeus, Gott des Lichtes, des Tages und der Gastfreundschaft, den Menschen die Geschichte zu geben.

Viel, viel später:
Herodot, der Schriftsteller des Säkularisierungsprozesses, der die Abreise der Menschheit in den Abgrund der sozialen Realität und des Geldes mit den Worten Das ist die Darlegung der Forschung des Herodots von Halikarnassos verfolgte und dabei ein obsessives Interesse an äthiopischen Männern entwickelte, erzählt diese Geschichte von der Stasis bei den Ioniern:
Nachdem Krösus alles verloren hatte, fielen die griechischen Städte an der kleinasiatischen Küste unter persische Verwaltung. Der Marionettentyrann von Milet, Aristagoras, entschied sich mit dem persischen Gouverneur Artaphernes zu paktieren, um die Insel Naxos einzunehmen. Die gesamte Mission war ein unfassbares Debakel. Zurück in Milet entschied Aristagoras, um seiner sofortigen Entfernung als Herrscher durch die persischen Oberverwalter zu entgehen, alle Ionier — die Bevölkerung Kleinasiens, die sich als Griechen verstanden — zur Rebellion gegen den persischen Großkönig Dareios I. anzustacheln. Der Ionische Aufstand — finanziert von einer westlichen Union, angeführt von Athen, die sich durch das Vorrücken der Perser bedroht sah — markierte den Beginn des Griechisch‑Persischen Krieges, einem zehn Jahre währenden Weltkrieg. Die Weltstadt Ephesos, Stadt des Weltwunders der Artemis, lag 80 Kilometer nördlich von Milet.

Genau zu dieser Zeit:
Heraklit, der Ionier aus Ephesos, träumt von Fischen.
Zehntausend silberne Sardinen mit starren Augen.
Ein monströser Schwarm wälzt sich in einem konzentrierten Tanz, im kalten Wasser.
Heraklit öffnet die Augen.
Er schaut an die Decke.
Er atmet ein.
Seine Nase ist verstopft.
Mir ist schlecht.
Er hustet.
Oh Gott.
Er erkennt an den Geräuschen des Tages: Es ist schon spät.
Heraklit richtet sich auf, stellt die Füße auf den kalten Marmorboden. Er stützt die Ellenbogen auf den Oberschenkeln ab. Seine Knie sind spitz. Er lässt den Kopf hängen.
Oh Gott.
Wasser.
Wein.
Heraklit schaut zur Seite in die Kissen, die er im Schlaf vertrieben und gestapelt hat, und sieht seiner Katze in die goldenen Augen.
Der Schlaf der Katze beginnt jetzt. Ihr Tag ist die Nacht.
Heraklit hustet, versucht nicht zu kotzen und streichelt die Katze.
Heraklits erster echter Gedanke, der ihn kurz den miserablen Zustand seines Körpers vergessen lässt, geht an die absurde Tatsache, dass ihm gestern jemand in der Bar erzählt hatte, in manchen Neubauten in Ephesos gäbe es Fußbodenheizung.
Eine kühle Luft kommt durch das Fenster.
Durch den vom Wind sanft bewegten, neuen Türvorhang, auf dem Helenas Geburt aus einem Ei abgebildet ist, hört Heraklit Stimmen: Alle sind schon wach.
Wie spät ist es?
Heraklit steht auf, wackelt zum Vorhang, schiebt den Samtvorhang zur Seite, schaut in den Flur und sieht seinen Mitbewohner Hermodoros.
Guten Morgen, Heraklit.
Wie spät ist es?
Mittag.
Mir ist schlecht.
Die Schlacht von Lade ist verloren.
Wie?
Die Perser haben gewonnen. Milet wurde eingenommen. Die Männer werden ermordet. Die Frauen werden vor den Augen der Kinder vergewaltigt. Die Kinder versklavt. Die jungen Männer kastriert.
Heraklits zweiter echter Gedanke des Tages geht an den Tod.
Heraklits dritter echter Gedanke geht an den Krieg.
Heraklits vierter Gedanke geht an den Menschen.
Heraklits fünfter Gedanke geht zurück an die Sardinen.
Mir ist schlecht.
Wie?
Ich vertrage keinen Alkohol mehr. Ich ertrage diese Stadt nicht mehr.
Wir sind jetzt alt. Du darfst nicht mehr trinken, als seiest Jugendlicher.
Ich geh ins Bad.
Noch einen Blick zurück in sein Zimmer zu den bestickten Kissen auf dem Bett.
Ein Stich hinter den Augen.
Im Bad wäscht er sich den Kopf, gibt sich Olivenöl in die Haare und auf sein Gesicht.
Sowas Absurdes wie Fußbodenheizung.
Er hat dunkle Haare, torfschwarz wie das Leben.
Zurück in seinem Zimmer stellt er sich auf den Balkon.
Er sieht über die Zypressen, Säulen im Garten des Nachbarn.
Die Hecken: Die Akribie der Gärtnerin des Nachbarn macht ihn aggressiv.
Er betrachtet das Moos auf dem Vordach.
Ein Pelikan steigt auf.
Milet.
Nebel des Krieges.
Das gibt Krieg.
Das wird der Westen nicht erdulden.
Das wird ein Weltkrieg.
Alle werden in den Krieg ziehen.
Blutbad.
Heraklit beobachtet den schweren Flug des Pelikans.
Mit weichen Knien geht Heraklit die Treppe hinab.
Er fühlt sich wie ein alter Handwerker.
Ich bin nicht alt.
Heraklit ist nicht alt.
Heraklit ist unter 33.
In der Küche trifft er Myson, der in einen Topf starrt, dem Porridge beim Quellen zusieht.
Guten Morgen.
Guten Tag.
Willst du etwas?
Nein danke, ich habe eine Vision von Sardinen.
Sardinen?
Sardinen sind das einzige, was mir jetzt helfen kann.
Hast du von Milet gehört?
Ja, gerade.
Was sollen wir tun, Heraklit?
Wie: Was sollen wir tun?
Ja: Was sollen wir tun?
Wir können uns umbringen angesichts dieser Menschheit. Das ist das einzige, was wir tun können. Wir können uns umbringen. Mit jedem Schritt.
Heraklit nimmt einen Schluck Tee.
Nein, besser nicht.
Heraklits Magen krampft.
Was machst du jetzt?
Was ich jetzt mache?
Was machst du heute?
Ich brauche Sardinen.
Heraklit läuft in den Garten des Nachbars hinein, an den Zypressen vorbei, die im Wind winken.
Bäume könnten aussehen wie Menschen. Tun sie aber nicht. Sie sind keine Menschen.
Gott sei Dank.
Heraklit geht einen kleinen Hang hinab, es ist eine Abkürzung zum Hafen.
Der Sohn der Nachbarn vernagelt die Fenster.
Heraklit grüßt ihn mit einem Nicken.
Heraklit läuft einen Trampelpfad. Er tritt einen Zedernzapfen zur Seite.
Wenn er kotzen müsste: Hier könnte er kotzen.
Eigentlich sind ja alle Pfade Trampelpfade.
Er spürt den Herbst, kühler Wind in den Ästen.
Wenn er es schafft, durch das kleine Waldstückchen zu kommen, ohne zu kotzen, hat er es geschafft. Wenn er unter Menschen ist, kann er sich zusammenreißen.
Hoffentlich.
Hoffentlich gibt es Sardinen.
Er kommt hinter dem Athleten‑Denkmal raus, der sich Öl, Schweiß und Staub vom Körper schabt.
Heraklit biegt nach rechts ab, eine Wohnstraße und geht sie weiter zur unteren Stadt.
Kinder spielen mit Terrakotta‑Kugeln, in die Swastikas geritzt sind.
Ein Wurfspiel, das Heraklit nicht versteht.
An den wilden Weinreben, die an den roten Häusern klettern, fressen die Wespen.
In der Straße hat ein neuer Bäcker aufgemacht: Theraion, der Aufbackbrötchen verkauft.
Die kühle Luft. Der Wind. Die Bewegung der Muskeln. Der Beginn des Herbstes. Am Theater liest Heraklit ein Plakat. Das Konzert einer Gruppe aus Zypern sei wegen der aktuellen Lage abgesagt.
Auf dem Platz vor der Celsus‑Bibliothek sieht er Melanthippe. Sie ist seine beste Freundin. Aber er ist zu fertig, um Kontakt aufzubauen.
Sardinen.
Heraklit schaut nicht zu Memnons Taverne, als er an ihr vorbeikommt. Das Motto von Memnons Taverne ist der Einzug der Äthiopier in den Krieg vor Troja. An die Wände der Bar ist der Tempel von Abu Simbel gemalt und Zeichen, die nubische Schriftzeichen darstellen sollen. Aber Heraklit weiß, dass das keine nubischen Schriftzeichen sind, sondern ausgedachte Zeichen, die aus der Fantasie des Barbesitzers entsprungen waren, der einen merkwürdigen Faible für Äthiopien hatte, eigentlich aber aus einem Vorort von Ephesos kam. Auf den Tischen standen Datteln und auf dem Boden sammelten sich die Dattelkerne.
Die Erinnerungen an gestern Nacht blitzen auf, während Heraklit wegschaute. Weiterging.
Eine neue Welle Übelkeit: Das Licht war dunkelrot und die Leute um ihn herum unterhielten sich und waren freundlich zueinander und manchmal waren Gesten der Liebe dabei und Heraklit schwieg und trank schweigend immer weiter. Jetzt war er froh, Freunde zu haben. Er wollte nicht sprechen. Als die Sonne aufging, war er so betrunken, dass er einen Hund gestreichelt hatte und dabei fast wusste, wie es ihm heute gehen wird.
Am Artemis‑Tempel beobachtet Heraklit die Irren, die Artemis anrufen.
Als würde das jetzt helfen.
Als würden die Götter zuhören.
Als hätten sich die Götter nicht abgewandt.
Als hätten sie nicht das Leben der Menschen überhaupt möglich gemacht.
In dem Moment, als sie sich abwandten.
Oh Artemis, Göttin der Jagd, Göttin des Waldes, Göttin der Wildtiere, Göttin der Geburt und des Mondes, Hüterin der Frauen und Kinder, Olympische Göttin, Tochter des Zeus, Tochter der Leto, Zwillingsschwester des Apollon, beschütze Milet, unsere Zwillingsstadt, die du …
Heraklit wendet sich ab.
Am liebsten will er schreien: Artemis, Göttin der Hierarchie des Mordes.
Am Hafentor spürt Heraklit, dass die Bewegung seinem Körper guttut. Er geht durch das purpurne Osttor.
Er blickt in den Himmel.
Vielleicht wird sich die Sonne heute doch noch zeigen.
Das wäre gut.
Er denkt: Die Sonne ist neu an jedem Tag. Aber die Menschen sind zu allen Zeiten gleich.
Noch beten wir die Denkmäler an. Weil wir uns selbst anbeten.
In 2.500 Jahren werden wir die Ruinen anbeten. Weil wir uns selbst anbeten.
Wir werden die Geschichte anbeten. Weil wir uns selbst anbeten.
Er hört den Hafen.
Er hört die Schiffsbauer singen.
Er riecht gegrillte Sardinen, obwohl sie noch zu weit entfernt sind.
Endlich steht er vor dem Zum Pelikan.
Er tritt hinein.
Es riecht nach gegrillten Sardinen.
Es riecht nach gegrillten Sardinen‑Spießen auf offenem Feuer.
Er grüßt den Koch.
Gibt es Sardinen?
Ja, natürlich gibt es Sardinen.
Zwei Sardinen‑Spieße, bitte.
Natürlich, für hier oder zum Mitnehmen?
Für hier.
Das macht 12,50.
Oh Gott.
Entschuldigung, ich habe mein Geld vergessen.
Oh Gott.
Heraklit eilt heraus.
Heraklit steht vor dem Zum Pelikan.
Das Adrenalin der Scham unterdrückt die Übelkeit.
Er riecht das Salz des Ozeans.
Algen. Menschen. Dreck.
Ich muss zurück.
Heraklit eilt durch das Hafentor.
An der Celsus‑Bibliothek sucht er Melanthippe.
Vielleicht könnte er sich Geld leihen, aber er sieht sie nicht.
Diesmal geht er über die Agora zurück.
Nicht noch mal an dem Nachbarssohn vorbei.
Die Menschen stehen auf der Agora. Informieren sich. Sind in Aufruhr. Manche Männer schreien:
Milet gefallen und geraubt.
Die müssen vor Gericht.
Kriegsverbrecher stoppen.
Wir müssen die Demokratie verteidigen.
Hier entscheidet sich das Schicksal der Demokratie.
Körper der Exekutierten übersähen die Straßen.
Man zählt nicht mehr die einzelnen Toten, man schätzt sie in Gewicht.
Der Westen hat die Gräuel verurteilt. Sie werden auf das Schärfste reagieren.
Wie soll die Welt auf so etwas reagieren?
Als nächsten sind wir dran. Als Nächstes wird Ephesos hingeschlachtet.
Heraklit geht die Hauptstraße hinauf. Er beschleunigt immer mehr, als würden in Ephesos magnetische Kräfte wirken.
Es muss später Mittag sein, die Beamten kommen aus den Büros.
Er biegt scharf links in die Gasse ein, die zu seinem Haus führt.
Sie ist leer. Eine Böe bläst etwas Staub auf.
Heraklits Beine werden kalt.
In der Küche steht Myson und spült ab.
Schon zurück?
Ich hab mein Geld vergessen.
Myson lacht.
Heraklit trinkt einen Schluck Tee.
Er geht die Treppen hoch zu seinem Zimmer.
Er stellt sich auf den Balkon und atmet einmal tief ein.
Er setzt sich aufs Bett und streichelt seine Katze.
Dann sinkt er langsam hinab.
Schaut an die Decke.
Tod ist alles, was wir im Wachen sehen und Schlaf, was im Schlaf.
Er schließt die Augen. Es ist die Zeit der Stasis, die Zeit des Krieges. Seit fünf Jahren ist Krieg. Noch Jahre wird er nicht vergehen: Nebel des Krieges.
Es ist diese Zeit: die des Todes, der alle erfasst und in dem nichts entsteht.
Nichts lebt. Alles stirbt.
Nur die Natur wälzt sich weiter.
Schlaf der Katze.
Heraklits Atem wird ruhiger.
Gleich wird er wieder träumen.

Autor
Marius Goldhorn ist Autor und Dichter. 2020 erschien sein Roman Park“ in der edition Suhrkamp und der Gedichtband Yin“ im Korbinian Verlag.

“Die Stasis in Milet” erschien zuerst an dieser Stelle im Magazin STILLSTAND des Goethe-Instituts und wurde in Zusammenarbeit mit Das Wetter - Magazin für Text und Musik beauftragt und erstellt.

© by Goethe-Institut USA

September 3, 2022

Folge X: Sekundärliteratur

Ein Buch erklärt ein Buch erklärt ein Buch erklärt ein Buch.Ein Buch erklärt ein Buch erklärt ein Buch erklärt ein Buch.

Texte über Texte und alles was noch darüber geschrieben wird. Sie quält und hilft uns: Sekundärliteratur.

Nach Bildung, Fort-, Weiter- und Halbbildung beschäftigen wir uns mit zweiten und dritten Blicken auf das Primäre. Und zwar das wirklich wahre Erste: Den Text. Der Gegenstand des ersten Textes: Die Welt, die Realität - alle möglichen Gegenstände, außer! - andere Texte. Die Sekundärliteratur eben schaut auf andere Texte, und produziert in diesem Zuge wieder: Texte. Geisteswissenschaft als Kunst der Paraphrase? Schulphilosophie als Kommentieren und Kommentieren der Kommentare? Was bedeutet Autorschaft, und fehlt es an Autoren? An letzter Stelle steht ein Halbzitat: Es gibt nur gute und schlechte Bücher!

Wir verabschieden uns hiermit bis Anfang September in eine kleine Sommerpause! Bleibt uns erhalten und erleidet keinen Hitzeschlag.

July 13, 2022

Das Latinum - Ein Bildungsrelikt?

Können Sie Latein?Können Sie Latein?

Vom Nutzen und Nachtheil des Latinums für das Leben

„‚Uebrigens ist mir Alles verhasst, was mich bloss belehrt, ohne meine Thätigkeit zu vermehren, oder unmittelbar zu beleben‘. Dies sind die Worte Goethes, mit denen, als mit einem herzhaft ausgedrückten Ceterum censeo, unsere Betrachtung über den Werth und den Unwerth der Historie beginnen mag.“1 Ist heute das Latinum als bloss belehrendes“ im Sinne Goethes zu sehen? Sicher nicht. Als Sprache vermehrt auch Latein die Thätigkeit“ ungemein, belebt, wenn gekonnt, den Geist. Es ermöglicht Verstehen, wie jede Sprache, aber insbesondere für die Kultur, Ereignis- und Ideengeschichte, die dem heutigen Europa zugrunde liegen. Bietet einen Zugang, gewissermaßen. Einen Zugang zu Vergangenem, das für das Heute erschlossen werden muss. Ja, Latein lebt gar gegenwärtig fort, als schöpferische Disziplin, die nicht nur forscht, sondern dichtet, vorträgt. Doch soll es um die Frage nach dem Latinum gehen, und darum, ob es Pflicht sein sollte für Studenten der Philosophie.

Sprache ist Instrument, wobei jede Sprache dem Sprecher etwas bestimmtes ermöglicht. Keine Sprache ermöglicht in der Philosophie alles. Das heißt, je mehr man versteht, desto mehr versteht man. Der privilegierte deutsche Muttersprachler hat einen breiten, unverstellten Zugang zur Philosophie. Versteht er dazu Englisch, kann er sich weiträumig im Denken des 20. und 21. Jahrhunderts bewegen und wichtige Sekundärliteratur zu allen Epochen und Denkströmungen nutzen. Nun gibt es aber keine Sprache, in der im Westen für so lange Zeit, so heterogen und so reichs-, nations- und staatsübergreifend, so interdisziplinär gedacht wurde wie im Lateinischen. Sagen wir mal von Cicero und Lukrez bis Gassendi und Grotius umspannt das Lateinische gut 1700 Jahre Philosophiegeschichte; 1700 Jahre Primärtexte. Im deutschen Bildungssystem soll heute die ‚Institution‘ Latinum Lateinkenntnisse zertifizieren. Mit dem Latinum als Zugangsvoraussetzung zum Studium der Philosophie (und Geschichte, und anderer Fächer) wird so gleichzeitig eine — verständliche - Gewichtung innerhalb des Faches vorgenommen; jeder (!) Student soll sprachlich einen Zugang zu 1700 Jahren an Primärtexten haben. Ein sekundärer Grund, der für eine Latinumpflicht spricht: An vielen Schulen, die des Autors eingeschlossen, gibt es keinen Philosophieunterricht und ist die Auseinandersetzung mit der römischen Geschichte stark beschnitten. Latein dagegen wird immer noch großflächig gelehrt; unter anderem wegen und in Vorbereitung auf Universitäten, die für die meisten Geisteswissenschaften noch immer das Latinum verlangen. Die oft einzige Möglichkeit Caesar oder Cicero in der Schule tatsächlich einmal zu lesen oder sich mit der Mythologie der Antike auseinanderzusetzen, ist der Lateinunterricht. Das kommt momentan ca. 700.000 Lateinschülern zu gute.

Um sich die Philosophiegeschichte tiefgreifend und vollständig zu erschließen, braucht man heute wohl keine Lateinkenntnisse mehr. Dennoch widerstrebt es einem, das Latinum für obsolet zu erklären. Ein Philosoph ohne Lateinkenntnisse, selbst ein fähiger Philosoph, verursacht doch ein Unbehagen. Wie ein Mathematiker, der nicht über 100 hinaus kopfrechnen kann. Einer, der sich im Kern der eigenen Disziplin völlig verlässt auf die Vorarbeit anderer. Vielleicht ist es aber auch zu begrüßen, dass die Arbeitsteilung in der Philosophie weiter voranschreitet, und lateinische Übersetzungen mehr und mehr zur reinen Spezialistentätigkeit werden, auf die dann andere, die keine Zeit ihres Studiums mehr durch Lateinkurse verlieren, effektiver aufbauen können. Für diejenigen, die Latein demnach nicht mehr können müssten, wären eventuell doch vorhandene Lateinkenntnisse nach Nietzsche kostbarer Erkenntnissueberfluss und Luxus“ und müssten uns ernstlich, nach Goethes Wort, verhasst sein“.2

Dieses Ergebnis erscheint jedoch als ein ungewolltes Zugeständnis an das effektivitätsbestrebte Bachelor- und Exzellenzstudieren. Man sollte es, gerade heute, lieber mit Humboldt halten, und ausnahmsweise einmal die ‚bewährte Tradition‘ verteidigen. Humboldt ärgerte sich schon zu seiner Zeit: Der Mathematiker, der Naturforscher, der Künstler, ja oft selbst der Philosoph beginnen nicht nur jetzt gewöhnlich ihr Geschäft, ohne seine eigentliche Natur zu kennen und es in seiner Vollständigkeit zu übersehen, sondern auch nur wenige erheben sich selbst späterhin zu diesem höheren Standpunkt und dieser allgemeineren Übersicht.“3 Unter ‚allgemeiner Übersicht‘ ist eben kein gleichmäßig detailliertes Wissen eines ganzen Faches zu verstehen; wer aber, um den Duktus aufzunehmen, die eigentliche Natur der Philosophie erkennen will, und dieses Fach mit all seiner Geschichte zu überblicken in der Lage sein möchte, für den ist doch eine gewisse Kenntnis einer ihrer Hauptsprachen unabdingbar.

von JFMS


  1. Nietzsche, Vom Nutzen und Nachtheil der Historie für das Leben, Stuttgart 2009, S. 5.↩︎

  2. Ebd.↩︎

  3. Humboldt, Theorie der Bildung des Menschen, in: Schriften zur Bildung, Stuttgart 2017, S. 5.↩︎

June 30, 2022

Das Latinum - Ein Bildungsrelikt?

“Der Schatten der Geschichte hat den einstigen Schimmer dieser Sprache verschlungen.”“Der Schatten der Geschichte hat den einstigen Schimmer dieser Sprache verschlungen.”

Vom schwachen Trost der lateinischen Sprache

In manchen Schulen wird das Latinum noch gelehrt und wer sich später im Studium an den Geisteswissenschaften versucht, kommt ohnehin nicht um die tote Sprache“ herum. Jahrhunderte zurück war es eine Sprache, die man im regen Verkehr auf den vielbefahrenen Straßen Roms vernehmen konnte. Und nicht nur dort: das Imperium Romanum verbreitete seine Kultur und Sprache von Spanien bis an den Rhein, von der wettergrellen, großen Insel bis ins heiße Karthago, von den vorderpersischen Archipelen bis ins umkämpfte Gallien. Erobert wurden diese Länder von Soldaten, die i.d.R. nicht größer als 1,70 Meter waren und in wohlüberlegten Ordnungen und Formationen auch den ärgsten Feind in die Flucht schlagen konnten. Wer überleben wollte, musste sich beugen, dem wurden die Hände gefesselt und er wurde mit der Kultur der Eroberer gegeißelt. Unters Joch oder Tod, das war die Wahl des Verlierers. Der Lorbeerkranz tragende Sieger schreibt künftig dessen Geschichte und setzt gewissenhaft Punkt und Kommata im Leben des Barbarus“. Das ist, sofern er der lateinischen Sprache nicht mächtig ist, der Titel, den er von den Römern erhält, ganz im Sinne der alten Griechen. Und sie sind es, die das Fundament des römischen Kulturbaus bilden; in all seinen Feinheiten und Verzierungen, seinen Torbögen und gepflasterten Straßen, seinen Tempeln und Aquädukten, gleichwie seinen Dichtungen und Banketten, ja seinen Weintrauben und gebratenen Wachteln. Mithilfe einiger eifriger Kulturvermittler wie Cicero, Seneca und Sueton, hauchte man den römischen Statuen und Bürgern den griechischen Lebensatem ein, wenngleich, wie Vergil dichtet, ohnehin trojanisches Blut in den Adern der ersten Weltbürger floss. Aber wozu in der Zeit der Pax Augusta verweilen? Was geschah in der Folge dieser Blütezeit? Wer bestellte die Felder und wer säte das Korn, welches so prächtig in den Speichern der Kaiser und Könige gereift war? Ein Korn, das ein Ovid, ein Horaz und ein Quintilian geformt, ja bald überformt hatten. Viele waren da, die nach dem Gestus dieser wohlgeschliffenen, logisch, formalisierten Sprache lechzten. Die sich an ihrer Gewaltigkeit, die noch von den urzeitlichen Kräften kündigt, die im attischen Geiste gegenwärtig waren, ergötzten. Und so mancher von ihnen verstand es, das allzu Formale in die Form des Schönen umzugießen, die logischen Verästelungen der lateinischen Sprache derart zu verflechten, dass ein duftender Kranz daraus wurde. Doch Denker wie Augustinus oder Thomas setzen sich diese Blumenkränze nicht auf das eigene Haupt, wie es die großen Redner im Senat zu tun pflegten. Sie opferten diese Kränze einem Gott der Liebe und der Gnade, einem unsichtbaren, vergleichsweise anonymen Gott, von dessen Allmacht weder im Bild noch in der Sprache Zeugnis abgelegt werden konnte. Die Anhänger dieser Religion brachten es fertig, den gesamten lateinischen Sprachkörper in seiner Üppigkeit und Saftigkeit auf dem grauen Boden der Kontemplation und Meditation trockenzulegen. Die Scholastiker suchten nicht den schönen Klang oder das feine Wort, hier galt es, fromme Gedanken in schlichte und dienliche Bezeichnungen zu bringen, eine reine Abbildfunktion der Realität, alles für einen höheren Zweck im Jenseits vorgesehen.

Wenige Jahrhunderte später gab es dann ein erneutes Aufleuchten der alten Zeit. Man formte und genoss wieder. Man spielte und lernte im Latein und liebäugelte mit den schönen Farben der alten Meister. Von diesem Zeitpunkt der Wiedergeburt versiegt das lateinische Wort jedoch in der Geschichte, weicht immer mehr dem Französischem und muss sich heute damit abfinden nur noch als Schmuck oder Accessoire verwendet zu werden.

Nun sitzt der emsige discipulus heute in der Latein AG und will den fremd anmutenden Wörtern eines rhetorischen Genies ihren Sinn entlocken. Wozu? Was erhofft er sich? Wobei soll es ihm helfen? Der Schatten der Geschichte hat den einstigen Schimmer dieser Sprache verschlungen. Nichts als Staub und Asche hinter den Buchstaben. Was soll der Lebende sich für die Toten interessieren? Ihre Sprache wird er ja doch nie gänzlich begreifen. Aber was sage ich? Habe ich denn recht? Solcherlei Gedanken begleiten den discipulum anfangs, dann vertieft er sich in den Text. Wenn er sich dem lateinischen Wort anvertraut, sieht er weiße Segel in der Bucht Karthagos, die Äneas mahnen, nach Rom aufzubrechen und hinter dem nächsten Satz steigt ein weiteres Bild auf: Eine rote Toga wellt sich an der Schulter.

von BWG

June 30, 2022

Folge 21: Bildung als Microdegree?

Wilhelm von Humboldt auf dem Bildungsthron.Wilhelm von Humboldt auf dem Bildungsthron.

Wir bilden uns und euch und fragen u.a. mit Humboldt nach Allgemein-, Halb- und Ganzbildung heute wie damals.

Wer ist man heutzutage eigentlich, wenn man statt eines Diploms 23 Microdegrees erworben hat? Was ist kanonisch und was ist ein Kanon? Fährt man heutzutage am Ende mit der Halbbildung noch ganz gut, weil bereits die viertel-/achtel-/sechzehntel-Bildung droht? Wollen uns hippe digitale Trends weismachen, Wissen sei dasselbe wie Bildung, und auch Wissen sei letztlich nichts anderes als Information? Das ist einer Ökonomisierung von Wissen und der Aushöhlung von Bildung allzu zuträglich. Am Ende braucht Bildung Zeit: Und die fehlt. Also verschiebt man Bildung aufs Wochenendseminar oder aufs Coaching, d. h., man will sie heute als Ware. Außerdem und nicht zuletzt hierarchisiert der Bildungsbetrieb, er regelt soziale Teilhabe und Zugang zu Wissen. - Übrigens: Welcher Humboldtbruder war der ältere? - Was war und gibt es noch Gelehrtentum? - Und weshalb tun sich Millennials und ihre unmittelbaren Vorläufer (wir) so schwer, sich für einen Lebensweg zu entscheiden?

Festzuhalten bleibt: Wir leben in einer der schnellsten Zeiten aller Zeiten.

June 29, 2022

Inwiefern Michel de Montaignes Philosophie skeptisch genannt werden kann

Michel de Montaigne, König der Essays.Michel de Montaigne, König der Essays.

Es mag durchaus ratsam sein, sich der Frage ob (und, wenn ja, inwiefern) Montaigne ein skeptischer Philosoph war, so anzunehmen, wie er es getan haben könnte. Zweifellos (!) hätte er die nötige Vielheit der Perspektiven auf eine solche, in Stil und Wesen nach Klarheit verlangende Forschungsfrage betont. Wiewohl er auch keiner einzelnen der möglichen Perspektiven alleine vertraut hätte. Ebenso wäre dann auch die Beantwortung der Frage in mehrere Antworten zerfallen. Eine klare Aussage, die er im Zuge seines Nachdenkens sicherlich nicht gescheut hätte, würde deshalb noch keine klar bezogene Position gekennzeichnet haben. Über einen ähnlichen Gegenstand wäre andernorts, in anderem Kontext, unter anderen Gesichtspunkten ein anderes Urteil gefällt worden. Für Wahrheit- und Klarheitsuchende unter den Philosophen ist diese Position wahrscheinlich ein Albtraum. Eigentlich die Abwesenheit einer Position. Vielheit und Mannigfaltigkeit eines Urteils hieße in ihren Ohren nur die Vermeidung eines eigentlichen Urteils, mangelnde intellektuelle Strenge oder schlichtweg die geistige Unfähigkeit, die wirkliche Wahrheit ‚hinter‘, unter, über ‚den Dingen‘ aufzudecken. Hans Blumenberg beschreibt wie folgt die Sehnsucht solcher Philosophen in der Tradition Descartes’, die glauben alles kann definiert werden, also muß es auch definiert werden, es gibt nichts logisch ‚Vorläufiges‘ mehr, so wie es die morale provisoire nicht mehr gibt.“1

Bei Montaigne scheint ein gänzlich anderes Ideal auf, an welches sich eine gänzlich andere Sehnsucht knüpft. Ein Ideal zunächst, welches Wahrheit nicht mehr versteht als die eine, die die wahre Wirklichkeit abbildet. Eines, das die intellektuelle Strenge ganz im Sinne Nietzsches ersetzt durch eine Tugend der ‚intellektuellen Redlichkeit‘. Redlich ist ein Denker wie Montaigne gerade darum, weil er die auf ihn einprasselnde Vielgestaltigkeit von Welt und Urteilen über die Welt nicht zwanghaft in Letztgültigkeiten ordnen und kategorisieren will. Redlich ist in diesem neuen Ideal für Philosophen gerade das Geltenlassen von Mehrerem, einander Widersprechendem, wobei dieses Vorgehen — so eine beinahe dogmatische, aber heimlich gehegte Hoffnung aller Skeptiker — der Welt, ‚wie sie wirklich ist‘, womöglich um einiges näher kommt als die unwandelbaren, unverwechselbaren, kohärenten, systematisierbaren Urteile der Dogmatiker. Montaigne scheint auch einem Helmuth Plessner schon zugerufen zu haben: [D]ie Natur und selbst die menschlichen Dinge spotten nicht nur [den] Vorstellungen von Zweckmäßigkeit, sondern in weiten Bereichen der Zweckmäßigkeit überhaupt. Auch wäre es ungerechtfertigt, die Welt für logisch zu halten, in den Grenzen begrifflicher Korrektheit und Korrigierbarkeit.“2

Eine damit korrespondierende Sehnsucht sodann, die schon völlig immanent daher kommt und Jenseitiges außen vor lässt, ob es nun als irgendwie gearteter Untergrund des Diesseits Teil der Welt oder als Übergrund und andere Welt von ihr geschieden sein soll. Montaignes Ideal ist ein Lebensideal, eines der Bewältigung, der Bemeisterung; ein intellektuelles Ideal, welches ebenso biegsam und anpassungsfähig sein muss, wie das Leben, welches immer neue, immer andere, auch sehr individuelle Herausforderungen an den menschlichen Geist stellt: Wie die Natur uns Füße zum Gehen gab, so gab sie uns auch Klugheit, uns im Leben zu leiten; nicht eine spitzfindige, stattliche, hochfahrende Klugheit, wie jene sie ausklügeln; aber geschmeidig und heilsam am rechten Ort verrichtet sie trefflich, was die andere in Worten sagt […].“3

Doch um nach viel Vorrede zum Werk zu schreiten: Die antike Gegenüberstellung der Skeptiker gegen die Dogmatiker, dies wäre nun eine Perspektive, unter welcher Montaigne sowohl eindeutig den Skeptikern zuzuordnen wäre, als auch nicht. Sehr wohl, insofern er keine geschlossene Weltsicht hat, welche sich auf Unveränderbares stützt, in welches Montaigne Einsicht zu haben behaupten würde; andererseits auch nicht, insofern er keine radikale erkenntnistheoretische Skepsis im antiken Sinne vertritt. Einer solchen gegenüber wäre er vielmehr ebenfalls — skeptisch. Sinnvolle, und in diesem Sinne ‚wahre‘, Erkenntnisse sind durchaus möglich, wobei das Verständnis von ‚Wahrheit‘ als in gewissem Sinne relativierbarer, mindestens falsifizierbarer Vorläufigkeit, die nicht zugleich ihr eigener Endzweck ist, bereits durch und durch skeptisch geprägt ist; eine Umprägung, die als allen dogmatischen Hoffnungen konkurrierendes Paradigma spätestens seit Nietzsche, Freud und anderen wieder einmal philosophische Grabenkämpfe ausgelöst hat. Viele analytisch geprägte Philosophen oder auch Naturwissenschaftler würden Montaigne daher gar nicht erst als einen Skeptiker, sondern gleich als ‚Irrationalisten’ abtun.

Doch Montaigne schränkt den Anspruch und die Macht unserer Vernunft nur ein, spricht sie ihr nicht ab; sieht die Vernunft als eine menschliche Zugangsweise zur Welt, eine ausgezeichnete gar, gleichwohl eine mit limitierten Möglichkeiten und unüberwindbaren Grenzen: [D]ie Vernunft hat mich belehrt, daß eine Sache so unbedenklich als falsch und unmöglich abtun sich des Vorzugs vermessen heißt, die Grenzen und Schranken des göttlichen Willens und der Macht unserer Mutter Natur im Kopfe zu haben, und daß es keine namhaftere Dummheit in der Welt gibt, als diese auf das Maß unserer Geisteskraft zustutzen zu wollen. Wenn wir das, was unserer Vernunft nicht zugänglich ist, Ungeheuer und Wunder nennen, wie viele bieten sich dann nicht beständig unserem Blick?“4

Auch im methodischen Sinne vertritt Montaigne keine Exklusivität irgendeines Zugangs zu den Problemen, derer er sich annimmt, genau so, wie er im engen epistemologischen Sinne eine Erkenntnis der Wahrheit eines Gegenstandes für unwahrscheinlich, im Einzelfalle auch gar nicht erstrebenswert hält. Ein Motto, welches wiederum Nietzsche aufnehmen sollte, bei seinem Fragen nach dem Wert eines Wahrheitsideals, welches sich um die Lebenspraxis nicht schert: [U]nter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrthum sein.“5 Auch methodisch jedenfalls hält Montaigne beispielsweise seine feinsinnige psychologische Betrachtungsweise nicht für die einzig legitime, welche konsequenterweise auch nie als Methode ausgeführt wird, obwohl sie immer wieder zum Einsatz kommt. Deutlich wird dieses Primat der erfolgreichen Orientierung im Leben selbst etwa in Montaignes Essai Über die Gewohnheit …“, in der sich ein politisch/religiöser Konservatismus vordergründig wie eine Art kontraintuitive Schattenseite des sonst heiteren, unkonventionellen Skeptikers präsentiert: Die Öffentlichkeit hat sich um unsere Art, zu denken, nicht zu scheren; aber das übrige, wie unsere Handlungen, unsere Arbeit, unser Glück und unser eigenes Leben, sind wir schuldig, ihrem Dienste zu widmen und den allgemeinen Ansichten anzubequemen […]. Denn das ist die Regel aller Regeln und das allgemeine Gesetz, daß ein jeder die Gesetze des Ortes beachte, an dem er steht“. Auch eine versteckte Ironie ist hier natürlich nicht auszuschließen, zumal Montaigne sich ausgerechnet des Sokrates als Beispiel eines Vorzeigebürgers bedient, der in seiner Version trotz der Ungerechtigkeit der Athener Obrigkeit den Giftbecher aus Respekt vor dem nun mal geltenden Gesetze getrunken haben soll. Doch scheint er in der Tat der Ansicht zu sein, dass es höchst zweifelhaft [ist], ob sich ein klarer Gewinn bei der Änderung eines überkommenen Gesetzes finden läßt, sei es, wie es wolle, wie Nachteil aus seiner Umwälzung entsteht“6.

Welche Skepsis aber drückt sich aus in dieser politisch konservativen Haltung, der auch sein äußerlicher Gottesglaube zuzuordnen ist? Eine Skepsis gegenüber allem Neuen, dem man sich unter Aufwand von Lebensenergie erst wieder anpassen müsste? Sicher hätte Montaigne es uns nicht übel genommen, richteten wir hier ein wenig psychologische Spekulation einmal gegen ihn, wonach wir denn seine gehobene gesellschaftliche Stellung als einen möglichen Grund erkennen würden, der ihm den Wert einer Umwälzung aller bestehenden Verhältnisse als sehr zweifelhaft erscheinen lassen haben könnte. Einen geeigneteren Ansatz liefert uns Montaigne aber vielleicht selbst, und zwar erneut einen psychologischen; wir finden ihn nämlich beinahe psychoanalytisch vorwegdenkend über die Ursprünge unserer ‚Gewohnheiten’ spekulieren, und aus dieser Warte zeigen sie ein ganz anderes Gesicht: Ich finde, daß unsere größten Laster schon in der zartesten Kindheit ihren Knoten in unsere Seele legen und daß unsere vornehmlichste Erziehung in den Händen der Säugammen liegt.“ In der Kindheit also vermutet Montaigne an dieser Stelle die wahren Samen und Wurzeln der Grausamkeit, der Tyrannei und des Verrats“, die, einmal unter den Händen der Gewohnheit“7 große Macht über den Menschen gewinnen können, und schließlich als Gewohnheit selbst auf Schritt und Tritt die Regeln der Natur vergewaltigen.“8 Vielleicht, so könnten wir mutmaßen, steht für Montaigne auch hier die Selbst(er)kenntnis des Menschen im Vordergrund, genießt hohe Priorität vor allen weltlichen Ordnungen, welche nur eine Folge der Ersteren sind, und solange wie jene als nachgeordnete und äußerliche ebenfalls unverstanden bleiben müssen.

Schon gar nicht ist Montaignes Skepsis übrigens ‚methodisch‘ in einem descarteschen oder kantischen Sinne, als rein hypothetisches Starkmachen eines imaginierten, dämonischen Feindes, den es auf dem (von vorneherein feststehenden) Weg zur ersehnten wirklichen Letztgültigkeit und gesicherten Erkenntnis noch zu überwinden gelte. Möchte man Montaigne hier irgendwie einordnen (was nicht nötig ist), so käme man schon eher weiter mit einer alltagssprachlichen Dimension des Wortes ‚Skepsis‘; als skeptischer Mensch begegnet Montaigne allem, was er vorfindet, wobei der Gegenstand allein mal ein deutlicheres, mal ein rein relatives, mal gar kein Urteil zulässt.

Es scheint also eine unentschiedene Sache zu bleiben, die Frage nach dem spezifischen Skeptizismus Montaignes. Doch dies mag zum einen bereits im Wesen des Skeptizismus als offenem, ‚freien‘ Denken liegen, zum anderen auch eine individuelle Stärke des Denkers Montaigne sein. Bei ihm ist unter anderem zu lernen, warum ‚unentschieden‘ keinen intellektuellen Fehlschlag bedeuten muss, sondern, dem erweiterten Wortsinne gemäß, auch der Sache nach ‚Ausgeglichenes‘, ‚Ambivalentes‘, ‚Vieldeutiges‘ zu Tage gefördert haben kann. Philosophiegeschichtlich muss noch einmal betont werden, gegen wie viele dogmatische Einflüsse der Theologie und der Philosophie er sich seiner Zeit noch erwehren musste. Als lebensorientiertem, ergebnisoffenem, gewohnheitskritischem Geist; welcher Weg sollte einem solchen attraktiv oder überhaupt als begehbar erscheinen, wenn nicht ein skeptischer? Insbesondere Metaphysik und Ethik steckten zu Montaignes Zeiten tief im dogmatischen Sumpf fest. Wie andere nahm er daher sich selbst als Quelle und Ausgangspunkt, nur eben sich in seinem Alltag, man ist versucht zu sagen: in seiner Lebenswelt, d. h. nicht ‚sich‘ als idealisiertes, abstraktes Ich, das erforscht werden soll: Ich studiere mich mehr als irgend einen Gegenstand. Das ist meine Metaphysik, das ist meine Physik.“9

Heute wirkt gerade seine ethische Skepsis noch immer befruchtend auf uns, und das heißt hier wieder: Skepsis allen vermeintlich endgültigen, metaphysischen Werten und Handlungsmaximen gegenüber, nicht eine grundsätzliche Skepsis wider der Möglichkeit sinnvoller ethischer Aussagen oder Erkenntnisse per se. Mit seinen Verweisen auf die psychologische Onto- und Phylogenese unserer Werte und ihrer gesellschaftlichen Manifestation ragt sein Denken bis in die Gegenwart, als wirkmächtige Figur der Philosophiegeschichte steht er als Alternative zu Descartes am Ausgang des neuzeitlichen Denkens. Sein Wunsch nach Linderung oder gar Heilung der Leiden menschlicher Existenz scheint noch immer nachzuhallen: Die Menschen […] werden von den Meinungen gepeinigt, die sie von den Dingen haben, nicht von den Dingen selbst. Es wäre ein großer Gewinn für die Erleichterung des elenden menschlichen Loses, wenn man diesen Satz durchgängig als wahr erweisen könnte.“10

von JFMS


  1. BLUMENBERG, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt 2019, S. 7.↩︎

  2. PLESSNER, Helmuth: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens, (in: Gesammelte Schriften VII), Frankfurt am Main 2016, S. 360.↩︎

  3. MONTAIGNE, Michel de: Essais Bd. III, Von der Erfahrung, Zürich 1953/2000, S. 853.↩︎

  4. Ebd.: I, Es ist Torheit …, S. 215.↩︎

  5. NIETZSCHE, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, § 121.↩︎

  6. MONTAIGNE, Michel de: Essais I, Über die Gewohnheit …, Zürich 1953/2000, S. 166.↩︎

  7. Ebd.: I, S. 157.↩︎

  8. Ebd.: I, S. 156.↩︎

  9. Ebd.: III, S. 852.↩︎

  10. Ebd.: I, Daß unsere Empfindung des Guten und Bösen …, S. 90.↩︎

May 14, 2022