Die Stasis in Milet

Der Tempel der Artemis in Ephesos. © by Thanh SoledasDer Tempel der Artemis in Ephesos. © by Thanh Soledas

von Marius Goldhorn

Am Anfang:
Bei Homer erscheint das Wort Stasis noch nicht.
Der Trojanische Krieg war ein anderer Krieg.
Die Zeit des Trojanischen Krieges war eine Vor‑Zeit.
Star Wars.
Bei Homer gilt die Rechtsordnung noch als sakral.
Bei Homer gibt es kein Geld.
In der Zeit des Trojanischen Krieges waren die Götter noch sichtbar.
Sie standen auf dem Schlachtfeld und am Strand.
Die Götter konnten essen und trinken.
Aber nicht so, wie sie lachten oder sich ärgerten, sich liebten oder sich vergewaltigten.
Wenn die Götter aßen oder tranken, nahmen sie einen Körper an.
Und wenn sie einen Körper hatten, begannen sie ihn zu pflegen.
Sie rasierten sich. Wuschen sich. Cremten sich ein: um die Bedürfnisse des Körpers zu spüren, die sie ja nicht wirklich verspürten.
Sie taten das aus Ehrfurcht vor den Menschen.
Nach zehn Jahren Krieg der Welten vor Troja entschied Zeus, Gott des Lichtes, des Tages und der Gastfreundschaft, den Menschen die Geschichte zu geben.

Viel, viel später:
Herodot, der Schriftsteller des Säkularisierungsprozesses, der die Abreise der Menschheit in den Abgrund der sozialen Realität und des Geldes mit den Worten Das ist die Darlegung der Forschung des Herodots von Halikarnassos verfolgte und dabei ein obsessives Interesse an äthiopischen Männern entwickelte, erzählt diese Geschichte von der Stasis bei den Ioniern:
Nachdem Krösus alles verloren hatte, fielen die griechischen Städte an der kleinasiatischen Küste unter persische Verwaltung. Der Marionettentyrann von Milet, Aristagoras, entschied sich mit dem persischen Gouverneur Artaphernes zu paktieren, um die Insel Naxos einzunehmen. Die gesamte Mission war ein unfassbares Debakel. Zurück in Milet entschied Aristagoras, um seiner sofortigen Entfernung als Herrscher durch die persischen Oberverwalter zu entgehen, alle Ionier — die Bevölkerung Kleinasiens, die sich als Griechen verstanden — zur Rebellion gegen den persischen Großkönig Dareios I. anzustacheln. Der Ionische Aufstand — finanziert von einer westlichen Union, angeführt von Athen, die sich durch das Vorrücken der Perser bedroht sah — markierte den Beginn des Griechisch‑Persischen Krieges, einem zehn Jahre währenden Weltkrieg. Die Weltstadt Ephesos, Stadt des Weltwunders der Artemis, lag 80 Kilometer nördlich von Milet.

Genau zu dieser Zeit:
Heraklit, der Ionier aus Ephesos, träumt von Fischen.
Zehntausend silberne Sardinen mit starren Augen.
Ein monströser Schwarm wälzt sich in einem konzentrierten Tanz, im kalten Wasser.
Heraklit öffnet die Augen.
Er schaut an die Decke.
Er atmet ein.
Seine Nase ist verstopft.
Mir ist schlecht.
Er hustet.
Oh Gott.
Er erkennt an den Geräuschen des Tages: Es ist schon spät.
Heraklit richtet sich auf, stellt die Füße auf den kalten Marmorboden. Er stützt die Ellenbogen auf den Oberschenkeln ab. Seine Knie sind spitz. Er lässt den Kopf hängen.
Oh Gott.
Wasser.
Wein.
Heraklit schaut zur Seite in die Kissen, die er im Schlaf vertrieben und gestapelt hat, und sieht seiner Katze in die goldenen Augen.
Der Schlaf der Katze beginnt jetzt. Ihr Tag ist die Nacht.
Heraklit hustet, versucht nicht zu kotzen und streichelt die Katze.
Heraklits erster echter Gedanke, der ihn kurz den miserablen Zustand seines Körpers vergessen lässt, geht an die absurde Tatsache, dass ihm gestern jemand in der Bar erzählt hatte, in manchen Neubauten in Ephesos gäbe es Fußbodenheizung.
Eine kühle Luft kommt durch das Fenster.
Durch den vom Wind sanft bewegten, neuen Türvorhang, auf dem Helenas Geburt aus einem Ei abgebildet ist, hört Heraklit Stimmen: Alle sind schon wach.
Wie spät ist es?
Heraklit steht auf, wackelt zum Vorhang, schiebt den Samtvorhang zur Seite, schaut in den Flur und sieht seinen Mitbewohner Hermodoros.
Guten Morgen, Heraklit.
Wie spät ist es?
Mittag.
Mir ist schlecht.
Die Schlacht von Lade ist verloren.
Wie?
Die Perser haben gewonnen. Milet wurde eingenommen. Die Männer werden ermordet. Die Frauen werden vor den Augen der Kinder vergewaltigt. Die Kinder versklavt. Die jungen Männer kastriert.
Heraklits zweiter echter Gedanke des Tages geht an den Tod.
Heraklits dritter echter Gedanke geht an den Krieg.
Heraklits vierter Gedanke geht an den Menschen.
Heraklits fünfter Gedanke geht zurück an die Sardinen.
Mir ist schlecht.
Wie?
Ich vertrage keinen Alkohol mehr. Ich ertrage diese Stadt nicht mehr.
Wir sind jetzt alt. Du darfst nicht mehr trinken, als seiest Jugendlicher.
Ich geh ins Bad.
Noch einen Blick zurück in sein Zimmer zu den bestickten Kissen auf dem Bett.
Ein Stich hinter den Augen.
Im Bad wäscht er sich den Kopf, gibt sich Olivenöl in die Haare und auf sein Gesicht.
Sowas Absurdes wie Fußbodenheizung.
Er hat dunkle Haare, torfschwarz wie das Leben.
Zurück in seinem Zimmer stellt er sich auf den Balkon.
Er sieht über die Zypressen, Säulen im Garten des Nachbarn.
Die Hecken: Die Akribie der Gärtnerin des Nachbarn macht ihn aggressiv.
Er betrachtet das Moos auf dem Vordach.
Ein Pelikan steigt auf.
Milet.
Nebel des Krieges.
Das gibt Krieg.
Das wird der Westen nicht erdulden.
Das wird ein Weltkrieg.
Alle werden in den Krieg ziehen.
Blutbad.
Heraklit beobachtet den schweren Flug des Pelikans.
Mit weichen Knien geht Heraklit die Treppe hinab.
Er fühlt sich wie ein alter Handwerker.
Ich bin nicht alt.
Heraklit ist nicht alt.
Heraklit ist unter 33.
In der Küche trifft er Myson, der in einen Topf starrt, dem Porridge beim Quellen zusieht.
Guten Morgen.
Guten Tag.
Willst du etwas?
Nein danke, ich habe eine Vision von Sardinen.
Sardinen?
Sardinen sind das einzige, was mir jetzt helfen kann.
Hast du von Milet gehört?
Ja, gerade.
Was sollen wir tun, Heraklit?
Wie: Was sollen wir tun?
Ja: Was sollen wir tun?
Wir können uns umbringen angesichts dieser Menschheit. Das ist das einzige, was wir tun können. Wir können uns umbringen. Mit jedem Schritt.
Heraklit nimmt einen Schluck Tee.
Nein, besser nicht.
Heraklits Magen krampft.
Was machst du jetzt?
Was ich jetzt mache?
Was machst du heute?
Ich brauche Sardinen.
Heraklit läuft in den Garten des Nachbars hinein, an den Zypressen vorbei, die im Wind winken.
Bäume könnten aussehen wie Menschen. Tun sie aber nicht. Sie sind keine Menschen.
Gott sei Dank.
Heraklit geht einen kleinen Hang hinab, es ist eine Abkürzung zum Hafen.
Der Sohn der Nachbarn vernagelt die Fenster.
Heraklit grüßt ihn mit einem Nicken.
Heraklit läuft einen Trampelpfad. Er tritt einen Zedernzapfen zur Seite.
Wenn er kotzen müsste: Hier könnte er kotzen.
Eigentlich sind ja alle Pfade Trampelpfade.
Er spürt den Herbst, kühler Wind in den Ästen.
Wenn er es schafft, durch das kleine Waldstückchen zu kommen, ohne zu kotzen, hat er es geschafft. Wenn er unter Menschen ist, kann er sich zusammenreißen.
Hoffentlich.
Hoffentlich gibt es Sardinen.
Er kommt hinter dem Athleten‑Denkmal raus, der sich Öl, Schweiß und Staub vom Körper schabt.
Heraklit biegt nach rechts ab, eine Wohnstraße und geht sie weiter zur unteren Stadt.
Kinder spielen mit Terrakotta‑Kugeln, in die Swastikas geritzt sind.
Ein Wurfspiel, das Heraklit nicht versteht.
An den wilden Weinreben, die an den roten Häusern klettern, fressen die Wespen.
In der Straße hat ein neuer Bäcker aufgemacht: Theraion, der Aufbackbrötchen verkauft.
Die kühle Luft. Der Wind. Die Bewegung der Muskeln. Der Beginn des Herbstes. Am Theater liest Heraklit ein Plakat. Das Konzert einer Gruppe aus Zypern sei wegen der aktuellen Lage abgesagt.
Auf dem Platz vor der Celsus‑Bibliothek sieht er Melanthippe. Sie ist seine beste Freundin. Aber er ist zu fertig, um Kontakt aufzubauen.
Sardinen.
Heraklit schaut nicht zu Memnons Taverne, als er an ihr vorbeikommt. Das Motto von Memnons Taverne ist der Einzug der Äthiopier in den Krieg vor Troja. An die Wände der Bar ist der Tempel von Abu Simbel gemalt und Zeichen, die nubische Schriftzeichen darstellen sollen. Aber Heraklit weiß, dass das keine nubischen Schriftzeichen sind, sondern ausgedachte Zeichen, die aus der Fantasie des Barbesitzers entsprungen waren, der einen merkwürdigen Faible für Äthiopien hatte, eigentlich aber aus einem Vorort von Ephesos kam. Auf den Tischen standen Datteln und auf dem Boden sammelten sich die Dattelkerne.
Die Erinnerungen an gestern Nacht blitzen auf, während Heraklit wegschaute. Weiterging.
Eine neue Welle Übelkeit: Das Licht war dunkelrot und die Leute um ihn herum unterhielten sich und waren freundlich zueinander und manchmal waren Gesten der Liebe dabei und Heraklit schwieg und trank schweigend immer weiter. Jetzt war er froh, Freunde zu haben. Er wollte nicht sprechen. Als die Sonne aufging, war er so betrunken, dass er einen Hund gestreichelt hatte und dabei fast wusste, wie es ihm heute gehen wird.
Am Artemis‑Tempel beobachtet Heraklit die Irren, die Artemis anrufen.
Als würde das jetzt helfen.
Als würden die Götter zuhören.
Als hätten sich die Götter nicht abgewandt.
Als hätten sie nicht das Leben der Menschen überhaupt möglich gemacht.
In dem Moment, als sie sich abwandten.
Oh Artemis, Göttin der Jagd, Göttin des Waldes, Göttin der Wildtiere, Göttin der Geburt und des Mondes, Hüterin der Frauen und Kinder, Olympische Göttin, Tochter des Zeus, Tochter der Leto, Zwillingsschwester des Apollon, beschütze Milet, unsere Zwillingsstadt, die du …
Heraklit wendet sich ab.
Am liebsten will er schreien: Artemis, Göttin der Hierarchie des Mordes.
Am Hafentor spürt Heraklit, dass die Bewegung seinem Körper guttut. Er geht durch das purpurne Osttor.
Er blickt in den Himmel.
Vielleicht wird sich die Sonne heute doch noch zeigen.
Das wäre gut.
Er denkt: Die Sonne ist neu an jedem Tag. Aber die Menschen sind zu allen Zeiten gleich.
Noch beten wir die Denkmäler an. Weil wir uns selbst anbeten.
In 2.500 Jahren werden wir die Ruinen anbeten. Weil wir uns selbst anbeten.
Wir werden die Geschichte anbeten. Weil wir uns selbst anbeten.
Er hört den Hafen.
Er hört die Schiffsbauer singen.
Er riecht gegrillte Sardinen, obwohl sie noch zu weit entfernt sind.
Endlich steht er vor dem Zum Pelikan.
Er tritt hinein.
Es riecht nach gegrillten Sardinen.
Es riecht nach gegrillten Sardinen‑Spießen auf offenem Feuer.
Er grüßt den Koch.
Gibt es Sardinen?
Ja, natürlich gibt es Sardinen.
Zwei Sardinen‑Spieße, bitte.
Natürlich, für hier oder zum Mitnehmen?
Für hier.
Das macht 12,50.
Oh Gott.
Entschuldigung, ich habe mein Geld vergessen.
Oh Gott.
Heraklit eilt heraus.
Heraklit steht vor dem Zum Pelikan.
Das Adrenalin der Scham unterdrückt die Übelkeit.
Er riecht das Salz des Ozeans.
Algen. Menschen. Dreck.
Ich muss zurück.
Heraklit eilt durch das Hafentor.
An der Celsus‑Bibliothek sucht er Melanthippe.
Vielleicht könnte er sich Geld leihen, aber er sieht sie nicht.
Diesmal geht er über die Agora zurück.
Nicht noch mal an dem Nachbarssohn vorbei.
Die Menschen stehen auf der Agora. Informieren sich. Sind in Aufruhr. Manche Männer schreien:
Milet gefallen und geraubt.
Die müssen vor Gericht.
Kriegsverbrecher stoppen.
Wir müssen die Demokratie verteidigen.
Hier entscheidet sich das Schicksal der Demokratie.
Körper der Exekutierten übersähen die Straßen.
Man zählt nicht mehr die einzelnen Toten, man schätzt sie in Gewicht.
Der Westen hat die Gräuel verurteilt. Sie werden auf das Schärfste reagieren.
Wie soll die Welt auf so etwas reagieren?
Als nächsten sind wir dran. Als Nächstes wird Ephesos hingeschlachtet.
Heraklit geht die Hauptstraße hinauf. Er beschleunigt immer mehr, als würden in Ephesos magnetische Kräfte wirken.
Es muss später Mittag sein, die Beamten kommen aus den Büros.
Er biegt scharf links in die Gasse ein, die zu seinem Haus führt.
Sie ist leer. Eine Böe bläst etwas Staub auf.
Heraklits Beine werden kalt.
In der Küche steht Myson und spült ab.
Schon zurück?
Ich hab mein Geld vergessen.
Myson lacht.
Heraklit trinkt einen Schluck Tee.
Er geht die Treppen hoch zu seinem Zimmer.
Er stellt sich auf den Balkon und atmet einmal tief ein.
Er setzt sich aufs Bett und streichelt seine Katze.
Dann sinkt er langsam hinab.
Schaut an die Decke.
Tod ist alles, was wir im Wachen sehen und Schlaf, was im Schlaf.
Er schließt die Augen. Es ist die Zeit der Stasis, die Zeit des Krieges. Seit fünf Jahren ist Krieg. Noch Jahre wird er nicht vergehen: Nebel des Krieges.
Es ist diese Zeit: die des Todes, der alle erfasst und in dem nichts entsteht.
Nichts lebt. Alles stirbt.
Nur die Natur wälzt sich weiter.
Schlaf der Katze.
Heraklits Atem wird ruhiger.
Gleich wird er wieder träumen.

Autor
Marius Goldhorn ist Autor und Dichter. 2020 erschien sein Roman Park“ in der edition Suhrkamp und der Gedichtband Yin“ im Korbinian Verlag.

“Die Stasis in Milet” erschien zuerst an dieser Stelle im Magazin STILLSTAND des Goethe-Instituts und wurde in Zusammenarbeit mit Das Wetter - Magazin für Text und Musik beauftragt und erstellt.

© by Goethe-Institut USA


Date
September 3, 2022