Das Latinum - Ein Bildungsrelikt?
Vom Nutzen und Nachtheil des Latinums für das Leben
„‚Uebrigens ist mir Alles verhasst, was mich bloss belehrt, ohne meine Thätigkeit zu vermehren, oder unmittelbar zu beleben‘. Dies sind die Worte Goethes, mit denen, als mit einem herzhaft ausgedrückten Ceterum censeo, unsere Betrachtung über den Werth und den Unwerth der Historie beginnen mag.“1 Ist heute das Latinum als „bloss belehrendes“ im Sinne Goethes zu sehen? Sicher nicht. Als Sprache vermehrt auch Latein die „Thätigkeit“ ungemein, belebt, wenn gekonnt, den Geist. Es ermöglicht Verstehen, wie jede Sprache, aber insbesondere für die Kultur, Ereignis- und Ideengeschichte, die dem heutigen Europa zugrunde liegen. Bietet einen Zugang, gewissermaßen. Einen Zugang zu Vergangenem, das für das Heute erschlossen werden muss. Ja, Latein lebt gar gegenwärtig fort, als schöpferische Disziplin, die nicht nur forscht, sondern dichtet, vorträgt. Doch soll es um die Frage nach dem Latinum gehen, und darum, ob es Pflicht sein sollte für Studenten der Philosophie.
Sprache ist Instrument, wobei jede Sprache dem Sprecher etwas bestimmtes ermöglicht. Keine Sprache ermöglicht in der Philosophie alles. Das heißt, je mehr man versteht, desto mehr versteht man. Der privilegierte deutsche Muttersprachler hat einen breiten, unverstellten Zugang zur Philosophie. Versteht er dazu Englisch, kann er sich weiträumig im Denken des 20. und 21. Jahrhunderts bewegen und wichtige Sekundärliteratur zu allen Epochen und Denkströmungen nutzen. Nun gibt es aber keine Sprache, in der im Westen für so lange Zeit, so heterogen und so reichs-, nations- und staatsübergreifend, so interdisziplinär gedacht wurde wie im Lateinischen. Sagen wir mal von Cicero und Lukrez bis Gassendi und Grotius umspannt das Lateinische gut 1700 Jahre Philosophiegeschichte; 1700 Jahre Primärtexte. Im deutschen Bildungssystem soll heute die ‚Institution‘ Latinum Lateinkenntnisse zertifizieren. Mit dem Latinum als Zugangsvoraussetzung zum Studium der Philosophie (und Geschichte, und anderer Fächer) wird so gleichzeitig eine — verständliche - Gewichtung innerhalb des Faches vorgenommen; jeder (!) Student soll sprachlich einen Zugang zu 1700 Jahren an Primärtexten haben. Ein sekundärer Grund, der für eine Latinumpflicht spricht: An vielen Schulen, die des Autors eingeschlossen, gibt es keinen Philosophieunterricht und ist die Auseinandersetzung mit der römischen Geschichte stark beschnitten. Latein dagegen wird immer noch großflächig gelehrt; unter anderem wegen und in Vorbereitung auf Universitäten, die für die meisten Geisteswissenschaften noch immer das Latinum verlangen. Die oft einzige Möglichkeit Caesar oder Cicero in der Schule tatsächlich einmal zu lesen oder sich mit der Mythologie der Antike auseinanderzusetzen, ist der Lateinunterricht. Das kommt momentan ca. 700.000 Lateinschülern zu gute.
Um sich die Philosophiegeschichte tiefgreifend und vollständig zu erschließen, braucht man heute wohl keine Lateinkenntnisse mehr. Dennoch widerstrebt es einem, das Latinum für obsolet zu erklären. Ein Philosoph ohne Lateinkenntnisse, selbst ein fähiger Philosoph, verursacht doch ein Unbehagen. Wie ein Mathematiker, der nicht über 100 hinaus kopfrechnen kann. Einer, der sich im Kern der eigenen Disziplin völlig verlässt auf die Vorarbeit anderer. Vielleicht ist es aber auch zu begrüßen, dass die Arbeitsteilung in der Philosophie weiter voranschreitet, und lateinische Übersetzungen mehr und mehr zur reinen Spezialistentätigkeit werden, auf die dann andere, die keine Zeit ihres Studiums mehr durch Lateinkurse verlieren, effektiver aufbauen können. Für diejenigen, die Latein demnach nicht mehr können müssten, wären eventuell doch vorhandene Lateinkenntnisse nach Nietzsche „kostbarer Erkenntnissueberfluss und Luxus“ und müssten uns „ernstlich, nach Goethes Wort, verhasst sein“.2
Dieses Ergebnis erscheint jedoch als ein ungewolltes Zugeständnis an das effektivitätsbestrebte Bachelor- und Exzellenzstudieren. Man sollte es, gerade heute, lieber mit Humboldt halten, und ausnahmsweise einmal die ‚bewährte Tradition‘ verteidigen. Humboldt ärgerte sich schon zu seiner Zeit: „Der Mathematiker, der Naturforscher, der Künstler, ja oft selbst der Philosoph beginnen nicht nur jetzt gewöhnlich ihr Geschäft, ohne seine eigentliche Natur zu kennen und es in seiner Vollständigkeit zu übersehen, sondern auch nur wenige erheben sich selbst späterhin zu diesem höheren Standpunkt und dieser allgemeineren Übersicht.“3 Unter ‚allgemeiner Übersicht‘ ist eben kein gleichmäßig detailliertes Wissen eines ganzen Faches zu verstehen; wer aber, um den Duktus aufzunehmen, die eigentliche Natur der Philosophie erkennen will, und dieses Fach mit all seiner Geschichte zu überblicken in der Lage sein möchte, für den ist doch eine gewisse Kenntnis einer ihrer Hauptsprachen unabdingbar.
von JFMS