Das Latinum - Ein Bildungsrelikt?
Vom schwachen Trost der lateinischen Sprache
In manchen Schulen wird das Latinum noch gelehrt und wer sich später im Studium an den Geisteswissenschaften versucht, kommt ohnehin nicht um die „tote Sprache“ herum. Jahrhunderte zurück war es eine Sprache, die man im regen Verkehr auf den vielbefahrenen Straßen Roms vernehmen konnte. Und nicht nur dort: das Imperium Romanum verbreitete seine Kultur und Sprache von Spanien bis an den Rhein, von der wettergrellen, großen Insel bis ins heiße Karthago, von den vorderpersischen Archipelen bis ins umkämpfte Gallien. Erobert wurden diese Länder von Soldaten, die i.d.R. nicht größer als 1,70 Meter waren und in wohlüberlegten Ordnungen und Formationen auch den ärgsten Feind in die Flucht schlagen konnten. Wer überleben wollte, musste sich beugen, dem wurden die Hände gefesselt und er wurde mit der Kultur der Eroberer gegeißelt. Unters Joch oder Tod, das war die Wahl des Verlierers. Der Lorbeerkranz tragende Sieger schreibt künftig dessen Geschichte und setzt gewissenhaft Punkt und Kommata im Leben des „Barbarus“. Das ist, sofern er der lateinischen Sprache nicht mächtig ist, der Titel, den er von den Römern erhält, ganz im Sinne der alten Griechen. Und sie sind es, die das Fundament des römischen Kulturbaus bilden; in all seinen Feinheiten und Verzierungen, seinen Torbögen und gepflasterten Straßen, seinen Tempeln und Aquädukten, gleichwie seinen Dichtungen und Banketten, ja seinen Weintrauben und gebratenen Wachteln. Mithilfe einiger eifriger Kulturvermittler wie Cicero, Seneca und Sueton, hauchte man den römischen Statuen und Bürgern den griechischen Lebensatem ein, wenngleich, wie Vergil dichtet, ohnehin trojanisches Blut in den Adern der ersten Weltbürger floss. Aber wozu in der Zeit der Pax Augusta verweilen? Was geschah in der Folge dieser Blütezeit? Wer bestellte die Felder und wer säte das Korn, welches so prächtig in den Speichern der Kaiser und Könige gereift war? Ein Korn, das ein Ovid, ein Horaz und ein Quintilian geformt, ja bald überformt hatten. Viele waren da, die nach dem Gestus dieser wohlgeschliffenen, logisch, formalisierten Sprache lechzten. Die sich an ihrer Gewaltigkeit, die noch von den urzeitlichen Kräften kündigt, die im attischen Geiste gegenwärtig waren, ergötzten. Und so mancher von ihnen verstand es, das allzu Formale in die Form des Schönen umzugießen, die logischen Verästelungen der lateinischen Sprache derart zu verflechten, dass ein duftender Kranz daraus wurde. Doch Denker wie Augustinus oder Thomas setzen sich diese Blumenkränze nicht auf das eigene Haupt, wie es die großen Redner im Senat zu tun pflegten. Sie opferten diese Kränze einem Gott der Liebe und der Gnade, einem unsichtbaren, vergleichsweise anonymen Gott, von dessen Allmacht weder im Bild noch in der Sprache Zeugnis abgelegt werden konnte. Die Anhänger dieser Religion brachten es fertig, den gesamten lateinischen Sprachkörper in seiner Üppigkeit und Saftigkeit auf dem grauen Boden der Kontemplation und Meditation trockenzulegen. Die Scholastiker suchten nicht den schönen Klang oder das feine Wort, hier galt es, fromme Gedanken in schlichte und dienliche Bezeichnungen zu bringen, eine reine Abbildfunktion der Realität, alles für einen höheren Zweck im Jenseits vorgesehen.
Wenige Jahrhunderte später gab es dann ein erneutes Aufleuchten der alten Zeit. Man formte und genoss wieder. Man spielte und lernte im Latein und liebäugelte mit den schönen Farben der alten Meister. Von diesem Zeitpunkt der Wiedergeburt versiegt das lateinische Wort jedoch in der Geschichte, weicht immer mehr dem Französischem und muss sich heute damit abfinden nur noch als Schmuck oder Accessoire verwendet zu werden.
Nun sitzt der emsige discipulus heute in der Latein AG und will den fremd anmutenden Wörtern eines rhetorischen Genies ihren Sinn entlocken. Wozu? Was erhofft er sich? Wobei soll es ihm helfen? Der Schatten der Geschichte hat den einstigen Schimmer dieser Sprache verschlungen. Nichts als Staub und Asche hinter den Buchstaben. Was soll der Lebende sich für die Toten interessieren? Ihre Sprache wird er ja doch nie gänzlich begreifen. Aber was sage ich? Habe ich denn recht? Solcherlei Gedanken begleiten den discipulum anfangs, dann vertieft er sich in den Text. Wenn er sich dem lateinischen Wort anvertraut, sieht er weiße Segel in der Bucht Karthagos, die Äneas mahnen, nach Rom aufzubrechen und hinter dem nächsten Satz steigt ein weiteres Bild auf: Eine rote Toga wellt sich an der Schulter.
von BWG