Gebete an die Langweile

Gaston La Touche: “L’ennui” (1893).Gaston La Touche: “L’ennui” (1893).

1

Langweile, Deine Macht ist groß: Du schmunzelst in den blauen Weiten des Himmels, der sich über touristische Kreuzfahrtschiffe wölbt. Du begleitest und leitest die Ozeanriesen und mobilen Spaßparadiese wie Charon seinen Totenkahn.

2

Langeweile, Du hast auf allen Partys, ja in den angesagtesten und nobelsten Clubs der Welt einen Gästelistenplatz und manchmal mischst Du Dich in das Dröhnen der Boxen oder die tausenden Breaks der DJs. Auch wenn man Dich mit allen Genussmitteln ­– Champagnerempfänge, effizienzgesteuerte Erotisierung, pausenlose Bassdiktatur — vertreiben will, findest Du einen Weg auf die Party. Denn Deine Schwester, die Kurzweiligkeit, kennt den Hintereingang eines jeden Clubs und wird ein enges Familienmitglied nicht vor der Tür stehen lassen. Wenngleich das Feiern nur ihr gewidmet ist, indem es das Leben in kurzweilige Augenblicke zersetzt, weiß sie, dass ihrer älteren Schwester ein großer Anteil dieser Gaben gehört, dass bei Vergrößerung ihrer Einflusszone die Macht ihrer großen Schwester proportional wächst, dass das Nachher und Danach aller Feste ihr gehört.

3

Langeweile, Du bist mächtig in deiner Unsichtbarkeit, Deiner Unberechenbarkeit. Oft hörst Du den Gesprächen der jungen Leute zu, die kaum wissen, wovon sie sprechen sollen und dann schlägst Du zu. Du nimmst den Schwung aus der Rede, Du nimmst den Gedanken ihre Zielrichtung, Du höhlst die Wörter in den Mündern aus, Du führst die Rede in die Leere. Du stiehlst Dich in die Fragen hinein, von denen wir die Antworten schon wissen.

4

Deine stärkste Rivalin, Langeweile, ist die Spannung. Sie ist das Lebenselixier einer kapitalistischen Kultur. Und sie ist diejenige Strategie, mit der sich der Kapitalismus die abstrakteste Größe des menschlichen Daseins, die Zeit nämlich, hedonistisch aneignet. Die spannende Zeit ist dem Lustprinzip unterworfen, sie arbeitet für das Lustprinzip, wirkt also luststeigernd und intensiviert den Augenblick und die Übergänge vom Vergangenen zum Gegenwärtigen und vom Gegenwärtigen zum Erwarteten. Die Zeit ist nicht länger indifferent und neutral, sondern sie wird zur Spur, zur Zündschnur, zum Präludium. Schmerzhaft wirkst Du, Langeweile, für den, der sich permanent von den Stromschlägen der Spannung elektrisieren muss. Ihm muss das Herausfallen aus der kurzweiligen Zeitform, in der die Zeit süßlich dahinschmelzt, zur bitteren Erfahrung werden. Der Albtraum einer spannungsaffinen Kultur ist die Langeweile und daher ist Deine Macht so groß, Langeweile.

5

Niemand will sich von Deiner Trägheit, von der Zähigkeit, mit dem du alles infizierst, anstecken lassen. Alle flüchten panisch deine Gegenwart, Langeweile. Und doch bleiben alle Maßnahmen gegen Dich Opfergaben für Dich. Die geplanten Wochenendausflüge, die anlasslosen Feste in den endlosen Sommern der Spaßgesellschaft, die zahllosen Festivals, die Bootspartys und die Clubnächte — sind sie nicht von einem weißen Strich durchzogen, bist Du nicht ihr Hintergrund? Klebt an Ihnen nicht der Kleister, mit dem Du alles bepinselst?

6

Wenn das organisierte Vergnügen, die kapitalistische Vermarktung des Spaßes am Spaß total ist, dann ist Deine letzte Fluchtstätte, Langeweile, erobert. Wie auf das letzte, frei lebende Exemplar einer aussterbenden Art wird man die Jagdhunde der Unterhaltung auf Dich hetzen bis man Dich zur Strecke gebracht hat und in einem Museum ausstopfen kann. Du wirst ein Erinnerungsstück an eine vergangene Epoche der Menschheit sein. Doch Deine eigentliche Macht entfaltest Du erst als Phantom, wenn Du objektiv-gesellschaftlich entfernt wurdest. Als Zerrbild beschattest Du eine sich selbst fremd gewordene Menschheit und verweilst gerade dann, wenn Du von den clownesken Chirurgen der Unterhaltungsindustrie wie ein Geschwür aus dem Gesellschaftskörper herausgeschnitten wurdest.

7

Langeweile, Deine Macht ist groß: Du veränderst die physikalischen Eigenschaften der Materie. Wenn sich die Stimmungen und Gemütslagen des Menschen auf einem Spektrum von Lichtfarben veranschaulichen lassen, so wirfst Du ein grelles Licht auf die umliegenden Gegenstände. Spitz ragen sie ins Bewusstsein. Die Dinge, die uns sonst nur Objekte unseres Willens sind, rücken sich als sie selbst in den Vordergrund, sie betonen ihre Autonomie und fordern uns heraus. Wenn sich die Stimmung der Langeweile wiegen lässt, dann nimmt das Gewicht von Subjekt und Objekt zu, schwer wiegt der Anblick im Auge des Gelangweilten und schwer ist die Aura der Gegenstände in Deinem grellen Licht. Wenn Du zuletzt Einfluss nimmst auf die Dichte der Dinge und die Konsistenz der Materie, dann verdichtest und verdickst Du sie. Die Materie formiert sich zur Phalanx gegenüber dem Bewusstsein des Gelangweilten, ihre Widerstandskraft wächst und die Gegenstände werden gegenständlicher: sie stehen uns entschiedener entgegen. Wir schreiten nicht mehr durch die Welt, als Gelangweilte waten wir durch das Weltwatt.

8

Langeweile, Entzugskur und Horrorszenario für den Schau- und Sensationslustigen. Regulator unseres Dopamin-Haushalts, kassenfreies, psychisches Neutralisierungsverfahren, verhasster Tempolimiter des modernen Lebens. Obgleich Du in den bestehenden Verhältnissen uns als Mangel und Abfall vom guten Leben vorkommst, bist Du die Erinnerung an das Menschliche in uns. Denn in dem hochgepeitschten Tempo des modernen Lebens musst Du wie die Vollbremse wirken, dabei liegt auf deinem Grund das Wesen der Zeit eher verborgen als in dem verwertenden, kalkulatorischen Umgang mit der Zeit.

9

Dass uns Menschen die Zeit zum Thema wird, dass wir sie qualitativ wahrnehmen können, von Länge und Kürze ihrer Weile sprechen, das unterscheidet uns von Tier und Gott. Die Handlungen der Tiere sind so sehr mit ihren Instinkten verschmolzen und diese Instinkte so sehr an das Jetzt gekettet, dass die Zeit als übergeordnete Einheit des Erlebens und Wirkens keine Bezugsgröße der Wahrnehmung darstellt. Tiere führen die Zeit aus, sie sind von der Gegenwart absorbiert. Götter sind der Zeit enthoben, ihr Wesen und ihre Wahrnehmung einzuspannen in das Trio von Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft bedeutete eine Einschränkung ihrer Allmacht und Allgegenwärtigkeit in allen Zeitformen. Der Gott ist gleich gegenwärtig und so entfällt für ihn die Unterschiedsbildung der Zeit, ihr genetisches, evolutives Wesen. Nähert sich nämlich das Zeitliche dem Ewigen, so konvergieren das Lang- und das Kurzweilige. Dem Gott wird die Zeit weder lang noch kurz, große Zeitabschnitte vergehen vor ihm wie kleinere, sie entfalten ihre Größe und Länge nicht, weil es kein endliches Bewusstsein gibt, an dem sie Maß nehmen könnten. Bevor sich der Gott langweilt, langweilt sich die Zeit. Der Mensch hingegen setzt sich bei seiner Geburt in ein Kanu, das den Strom der Zeit befährt. Er gleitet fortwährend vom Früheren ins Spätere, wandelt lebenslang auf Brücken, die über die Zeiträume geschlagen sind ans fremde Ufer der Zukunft. Die Stauung des internalisierten Zeitflusses, die die Langweile verursacht, ist nicht nur eine Problemstellung für das menschliche Bewusstsein, sondern sie stellt den Menschen: Während der Langeweile schlägt auch die Stunde der Selbsterkenntnis des Menschen — er erkennt sich als historisches Wesen, als Werdender.

10

Langeweile, Brutstätte des Gedankens, Glaserei der Reflexion! Du rollst den Teig unserer Gefühle, Gedanken und Empfindungen aus. Weil wir uns in deinen gähnenden Abgründen verlieren können, fangen wir an, uns zu besinnen. Du bringst eine Stille, in der sich die Sprache und der Gedanke leise regt und wahre Worte keimen können.

11

Langweile, weil die meisten Menschen der Selbstbegegnung, die Du Ihnen anbietest, ausweichen, fährst Du Deinen Stachel aus. Man kann Deine Bedeutung als Handlungsmotiv der Menschen gar nicht hoch genug veranschlagen! Statt uns zu langweilen, gehen wir einkaufen. Statt uns zu langweilen, rauchen wir eine Zigarette. Statt uns zu langweilen, schalten wir den Fernseher an. Statt uns zu langweilen, schauen wir aufs Handy. Statt uns zu langweilen, befragen wir unsere Mitmenschen, was sie am Wochenende erlebt haben. Doch wir drücken die Langweile nicht weg, sondern sie drückt uns in die Handlung. Das ist der Stachel der Langeweile.

12

Der Stachel der Langeweile gehört zum Geheimnis der Ware. Der Hochglanz der Neuware enthält das Versprechen, die Langweile zu vertreiben, die Welt und unser Leben zu einem anderen Ort zu machen, indem sie unser Ich austauscht. Es ist das verführerische, schwer abzulehnende Angebot, zum Anderen seiner selbst zu werden, indem man den Vorgeschmack des Lebens eines Anderen zu probieren bekommt. Der Schein der Ware gewährt uns die Möglichkeit, uns diesem Anderen, der ein Leben ohne Langeweile führt, anzuverwandeln. Das ist das Grundprinzip der Werbung: Ich ist ein Anderer. Letztlich gehört die Ware, wenn wir sie gekauft haben, nicht nur uns, sondern zu einem guten Teil Dir, Langeweile.

13

Zu fragen wäre, wie das Leben eines Menschen aussieht, der sich nicht langweilen muss, ohne Hinzunahme der schillernden Ware. Dieses Leben wäre nicht ohne Langweile, doch die Langweile würde keinen Stachel besitzen, sie könnte nicht mehr zustechen. Als eine Lebensbegleiterin hätten wir sie gezähmt. Die gedehnten Zeiträume ließen uns die Zeitlichkeit unseres Wesens erkennen und reflexiv durchsteigen, sie ließen uns reifen, die gerafften Zeiträume gäben uns das Gefühl der Verjüngung, in ihnen flössen wir dahin wie das sterbliche Leben.

von BWG


Date
September 12, 2023