Die Verwohnzimmerung des Öffentlichen
Oder: Vom mobilen Reich des Privaten
Wer in den Metropolen des Westens die U-Bahn nutzt oder in Deutschland gar das Wagnis eingeht, mit dem Fernverkehr der DB zu reisen, kann die Beobachtung machen, dass ein nicht unbedeutender Teil der Fahrgäste Kopfhörer und In-Ears trägt und meistens zusätzlich die Augen auf einen Bildschirm gerichtet hat. Wenn man bei einer längeren Reise mit der Schreibtischarbeit vorankommen will, dabei selbst in einem Bildschirm versinkend, kann man froh sein, neben diesen stillen Reisegästen einen Platz zu finden. Sie sind reserviert und unauffällig. Für Willkommen und Abschied begnügen sie sich mit einem einfachen Lächeln und machen sonst nicht viel Aufmerken von sich.
Kommt es während der Fahrt zu einem Zwischenfall, etwa zu einem Konflikt zwischen anderen Fahrgästen, kann man auf diese ruhigen Zeitgenossen nicht zählen. Wie sollten sie auch Notiz nehmen von dem, was um sie herum geschieht, wenn ihnen wie den Gefährten des Odysseus´ die Augen gebunden und die Ohren verstopft sind?
Anders als den Gefährten des Odysseus´ erlaubt ihnen die verschobene und extern gebundene Aufmerksamkeit den Gesang der Sirenen aus nahfernen Medienwelten zu vernehmen. Sie sind ganz Ohr — nur nicht im Hier-und-Jetzt.
Diese Menschen können gar nicht eingreifen, wenn Zivilcourage gefragt wäre, denn sie sind in der gegenwärtigen sozialen Interaktion mehr Dinge als Akteure. Gleichzeitig kann man ihnen Mangel an Zivilcourage nicht vorwerfen, denn sie verpassen die Chance, sich für diese zu entscheiden. Wer es schon als Verstoß gegen die Zivilcourage rügen wollte, sich diese Chance zu nehmen, forderte von der liberalen Gesellschaftsmoral wahrscheinlich zu viel. Wie kann man, bevor man moralisiert, dieses Verhalten verstehen?
Seit der Verbreitung der Massenmedien ist das Hier-und-Jetzt ein uninteressanter Nebenschauplatz geworden, während Großteile der Aufmerksamkeit für das Dort-und-Dann bzw. das interessantere Hier-und-Jetzt abgezweigt werden. Die Quantifizierung der
Aufmerksamkeit in reizüberfluteten Gesellschaften ist für diese medientechnische Umleitung und Neuverzweigung der Lebenswelt die ermöglichende Voraussetzung. Zugleich verhärtet sie diese Voraussetzung in der Folge. Denn mit einer Zunahme medialer Angebote und Zugangsweisen wird der Kampf um Aufmerksamkeit auf einer neuen Ebene fortgesetzt und vertieft.
Aldous Huxleys utopisch-dystopischer Roman “Schöne neue Welt” kreiste um die These, dass in einer Konsumgesellschaft die Unterwerfung der Menschen unter die Interessen des Staates nicht durch Gewalt erzwungen werden muss (wie Orwell in seinem Gegenentwurf “1984” meinte), sondern sich durch die betäubende Wirkung des Vergnügens von selbst vollziehen würde. Die Menschen würden ihrer Entmündigung in die Arme tanzen, solange sie Ihnen Vergnügen bereitet. Die Massenmedien und die moderne Technik würden dieses Vergnügen bereitstellen und für eine Dauerbeschallung sorgen. Die Menschen würden ihre sukzessive Verblödung wie einen guten
Cocktail genüsslich ausschlürfen. Die narkotisierende Wirkung des Genusses auf das geistige und kritische Vermögen des Menschen wird aggressive Staatspropaganda überflüssig machen. Denn die Wahrheit des bestehenden Systems auszusprechen, muss nicht per Gesetz verboten werden, wenn sich der Gedanke der Wahrheit im Schleier der permanenten Unterhaltung verflüchtigt und die Unterschiedsbildung von Lüge und Wahrheit in einer Grauzone medial produzierter Wirklichkeit verschwimmt. Ziviler Gehorsam wird indirekt, nämlich als Abfallprodukt einer totalen Medienwirklichkeit erzielt.
Sind unsere freundlich lächelnden Mitreisenden nicht ebenso gehorsam wie Huxleys Spaßjünger? Das bleibt eine Mutmaßung bis zu dem Moment, wo sich vor ihren Augen ein Unrecht ereignet, von dem sie kaum Notiz nehmen. Was sich auch während der Zugfahrt an sozialen Akten zuträgt, sie lassen es geschehen, nicht aus Böswilligkeit oder Misanthropie, sondern aus Unwissenheit und Bequemlichkeit.
Die
Ablenkungsstrategien und Möglichkeiten der Komfortsteigerung sind heute ausgefeilter denn je, weil in ihrem Angebot die enorme Individualisierung der Warenwelt integriert ist. Was Huxley als den Beginn der Massenkultur und der Inhalte der Massenmedien wie eine große Sonnenfinsternis prophezeite, ist heute umso schwerer zu durchschauen, weil es den persönlichen Interessen so sehr entgegenkommt. Plattformen wie Youtube, Netflix und Amazonprime bieten eine Bandbreite an personalisierten Waren, die ein Echo zum individuellen Konsuminteresse erzeugen und so die individualisierte Bedürfniswelt des Verbrauchers präzise abbilden und verdoppeln. Man fühlt sich heimisch im selbst eingerichteten Netflix-Account, sitzt auf Reisen nicht nur auf dem DB-Platz, sondern mit einer Pobacke auf dem eigenen Sofa im Wohnzimmer. Für den Individualkonsum sind die Pforten des Lieblingsarthouse-Kinos und des Lieblingsmusikclubs virtuell rund um die Uhr geöffnet.
Zur Aktualisierung von Huxleys These
muss man kein kulturpessimistisches Klagelied anstimmen, wie es 1985 der Medientheoretiker Neil Postamt in seinem Buch “Wir amüsieren uns zu Tode” getan hat. Der Inhalt, ja sogar die Form des Mediums sind zweitrangig für die hier analysierte Wirkung auf das soziale Interaktionsverhalten der Konsumenten. Ob man oberflächlicher Unterhaltung oder philosophisch tiefsinnigen Debatten lauscht,– abgelenkt und wahrnehmungsbetäubt ist man ohnehin, im letzteren Fall sogar noch eher. Das hochindividualisierte Angebot der medialen Welt sorgt dafür, dass der soziale Raum parzelliert wird: Jeder reist von seinem Wohnzimmer in seinem Wohnzimmer in sein Wohnzimmer. Die Verwohnzimmerung der Öffentlichkeit hat ein neues Maß erreicht, was sich übrigens auch an der Mode ablesen lässt, die mehr und mehr Outfits standardisiert, wie wir sie tragen, wenn wir auf dem Sofa sitzen. Das Quittieren der sozialen Rolle im öffentlichen Raum, die zunehmende Gleichgültigkeit gegenüber der Differenz von privat und
öffentlich steht keineswegs im Zeichen einer kommunistischen Brüderliebe unter den Teilnehmern der Gesellschaft, sondern sie wurzelt im Gegenteil in einer latenten Menschenscheu. Der Wille zur Abschottung und zum Überblenden des Unbekannten und Fremden, zur Annexion des öffentlichen Raumes und seiner Eingliederung in das nunmehr mobile Reich des Privaten führte in letzter Konsequenz zu einer kokonartigen Verpuppung der Individuen. Sie würden in persönlich zugeschnittenen Komfortzellen schweben, in denen die Befriedigung eines jeden Bedürfnisses nur einen Knopfdruck entfernt wäre. Die medialen Großkonzerne wollen diesen Konsumententyp in der breiten Masse rekrutieren, ob ihnen das gelingt und ob der Mensch letztlich nicht mehr als ein lustsüchtiger Verbraucher ist, kann hier nicht entschieden werden. Mittelfristig ergibt sich aus den beschriebenen Entwicklungen eine kollektive Passivität im Hier-und-Jetzt.
Wenn Mark Zuckerberg zu Beginn des 21. Jahrhunderts mit Blick auf
seine größte Erfindung Facebook verkündete, wir lebten in einem „postprivaten“ Zeitalter, dann ist die eigentliche Krux daran nicht, dass die neue, virtuelle Öffentlichkeit das Private auflöst, sondern dass das Private zum Öffentlichen wird, ja das Öffentliche ausfüllt. In der sozialen Wirklichkeit hat die virtuelle Verschiebung des Privaten ins Öffentliche den Effekt, dass alle mit Privatsachen beschäftigt sind. Die dialektische Wahrheit des „postprivaten“ Zeitalters ist somit die Totalisierung des Privaten und ließe sich mit der Gegenformel eines „postpublic“ Zeitalters beschreiben.
Soziologen in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts wollten die Öffentlichkeit und die Rolle des Individuums in ihr mit einer komplexen Rollentheorie als Maskenspiel, als das Agieren auf einer virtuellen Bühne verstehen. Die leeren Blicke, die von unseren freundlichen Fahrgästen für die Öffentlichkeit übrigbleiben, lassen die Idee eines Maskenspiels als Sozialromantik erscheinen. Die
Theatermasken werden nur noch nachlässig und halbherzig aufgesetzt, sie verdecken weniger als sie enthüllen. Man schlüpft nicht mehr in eine öffentliche Rolle, in ein Kleid, die Angst, sich die Blöße zu geben hat nachgelassen, weil der strenge Blick der Öffentlichkeit nachlässt. Man plustert sich nicht mehr zur Amtsperson auf, sondern macht es sich in seiner Privatperson gemütlich, weil die anderen das ja auch tun. Nun könnte man das Weichspülen des Sittlichkeitsgebot öffentlichen Auftretens als Emanzipation begrüßen. Der Gürtel wird gelockert und man ist überrascht, dass es selbst in der liberalen Demokratie ein Gürtelloch gibt, das den Bund noch weiter macht. Auf der Strecke bleiben während unserer Zugfahrt hingegen eine Reihe von Erfahrungen, die frühere Generationen möglicherweise als verbindlich angesehen haben für das, was ihnen „Leben“ hieß: Begegnungen, Gespräche und Bekanntschaft mit dem Unerwarteten, der Geheimzutat und Essenz echter Lust.
von BWG