Nietzsche verdauen

© by Amir Mohammad Ghasemizadeh© by Amir Mohammad Ghasemizadeh

Ich lese ihn gerade mit etwas Abstand und entdecke neue Gefühle, neben Mitleid auch eine gewisse menschlich allzumenschliche Erbärmlichkeit, die ein Augenrollen evozieren kann. Unbestritten bleibt seine beachtliche Gescheitheit” (Gehlen und Adorno im Gespräch). Und alle großen Fragen hat er vorformuliert. Teils auch ausformuliert. Aber eben in den seltensten Fällen erarbeitet oder ausgearbeitet. Er ist der große Ideengeber und Verflüssiger” (Andreas Urs Sommer). Aber - und deswegen halte ich Brunos Motto Nietzsche zum Nachtisch für genau falsch - man muss sich aus der produktiven Verwirrung, die er stiftet, von dem Rand des Abgrunds, an den er einen stellt, nach und nach mit sicheren Schritten entfernen - oder von mir aus eine Brücke darüber bauen oder sich gut gesichert in den Abgrund abseilen. Aber wenn man am Ende zu Nietzsche kommt, dann ist man entweder schon verloren oder erst recht verloren, weil er, Frechdachs der er ist, einem die Hand hinstreckt und gleich wieder wegzieht, wenn man sich an ihr hochziehen will. Ich bleibe dabei: Nachtisch ja, aber: dessert before dinner. Wenn man den Bauch mit ihm voll hat, dann ist man bestens auf die besten Arten der Magenschmerzen und Enttäuschungen vorbereitet, die dann wirkliches Umlernen bedeuten. Wie er sagt: Er ist Dynamit. Er lockert die Erde, die dann aber abgetragen und neu aufgehäuft werden muss, und zwar besser als vorher. Denn der Sprengung würdig war die ganze Scheiße sicherlich. Wenn man aber ganz bei ihm stehen bleibt, wird man am Ende auch zynisch. Und einsam. Der Geist gleiche am ehesten noch einem Magen, sagt er. Und was er nicht konnte, sollten wir versuchen: Nietzsches Schicksal verdauen.

von JFMS


Date
October 20, 2021