Inwiefern Michel de Montaignes Philosophie skeptisch genannt werden kann

Michel de Montaigne, König der Essays.Michel de Montaigne, König der Essays.

Es mag durchaus ratsam sein, sich der Frage ob (und, wenn ja, inwiefern) Montaigne ein skeptischer Philosoph war, so anzunehmen, wie er es getan haben könnte. Zweifellos (!) hätte er die nötige Vielheit der Perspektiven auf eine solche, in Stil und Wesen nach Klarheit verlangende Forschungsfrage betont. Wiewohl er auch keiner einzelnen der möglichen Perspektiven alleine vertraut hätte. Ebenso wäre dann auch die Beantwortung der Frage in mehrere Antworten zerfallen. Eine klare Aussage, die er im Zuge seines Nachdenkens sicherlich nicht gescheut hätte, würde deshalb noch keine klar bezogene Position gekennzeichnet haben. Über einen ähnlichen Gegenstand wäre andernorts, in anderem Kontext, unter anderen Gesichtspunkten ein anderes Urteil gefällt worden. Für Wahrheit- und Klarheitsuchende unter den Philosophen ist diese Position wahrscheinlich ein Albtraum. Eigentlich die Abwesenheit einer Position. Vielheit und Mannigfaltigkeit eines Urteils hieße in ihren Ohren nur die Vermeidung eines eigentlichen Urteils, mangelnde intellektuelle Strenge oder schlichtweg die geistige Unfähigkeit, die wirkliche Wahrheit ‚hinter‘, unter, über ‚den Dingen‘ aufzudecken. Hans Blumenberg beschreibt wie folgt die Sehnsucht solcher Philosophen in der Tradition Descartes’, die glauben alles kann definiert werden, also muß es auch definiert werden, es gibt nichts logisch ‚Vorläufiges‘ mehr, so wie es die morale provisoire nicht mehr gibt.“1

Bei Montaigne scheint ein gänzlich anderes Ideal auf, an welches sich eine gänzlich andere Sehnsucht knüpft. Ein Ideal zunächst, welches Wahrheit nicht mehr versteht als die eine, die die wahre Wirklichkeit abbildet. Eines, das die intellektuelle Strenge ganz im Sinne Nietzsches ersetzt durch eine Tugend der ‚intellektuellen Redlichkeit‘. Redlich ist ein Denker wie Montaigne gerade darum, weil er die auf ihn einprasselnde Vielgestaltigkeit von Welt und Urteilen über die Welt nicht zwanghaft in Letztgültigkeiten ordnen und kategorisieren will. Redlich ist in diesem neuen Ideal für Philosophen gerade das Geltenlassen von Mehrerem, einander Widersprechendem, wobei dieses Vorgehen — so eine beinahe dogmatische, aber heimlich gehegte Hoffnung aller Skeptiker — der Welt, ‚wie sie wirklich ist‘, womöglich um einiges näher kommt als die unwandelbaren, unverwechselbaren, kohärenten, systematisierbaren Urteile der Dogmatiker. Montaigne scheint auch einem Helmuth Plessner schon zugerufen zu haben: [D]ie Natur und selbst die menschlichen Dinge spotten nicht nur [den] Vorstellungen von Zweckmäßigkeit, sondern in weiten Bereichen der Zweckmäßigkeit überhaupt. Auch wäre es ungerechtfertigt, die Welt für logisch zu halten, in den Grenzen begrifflicher Korrektheit und Korrigierbarkeit.“2

Eine damit korrespondierende Sehnsucht sodann, die schon völlig immanent daher kommt und Jenseitiges außen vor lässt, ob es nun als irgendwie gearteter Untergrund des Diesseits Teil der Welt oder als Übergrund und andere Welt von ihr geschieden sein soll. Montaignes Ideal ist ein Lebensideal, eines der Bewältigung, der Bemeisterung; ein intellektuelles Ideal, welches ebenso biegsam und anpassungsfähig sein muss, wie das Leben, welches immer neue, immer andere, auch sehr individuelle Herausforderungen an den menschlichen Geist stellt: Wie die Natur uns Füße zum Gehen gab, so gab sie uns auch Klugheit, uns im Leben zu leiten; nicht eine spitzfindige, stattliche, hochfahrende Klugheit, wie jene sie ausklügeln; aber geschmeidig und heilsam am rechten Ort verrichtet sie trefflich, was die andere in Worten sagt […].“3

Doch um nach viel Vorrede zum Werk zu schreiten: Die antike Gegenüberstellung der Skeptiker gegen die Dogmatiker, dies wäre nun eine Perspektive, unter welcher Montaigne sowohl eindeutig den Skeptikern zuzuordnen wäre, als auch nicht. Sehr wohl, insofern er keine geschlossene Weltsicht hat, welche sich auf Unveränderbares stützt, in welches Montaigne Einsicht zu haben behaupten würde; andererseits auch nicht, insofern er keine radikale erkenntnistheoretische Skepsis im antiken Sinne vertritt. Einer solchen gegenüber wäre er vielmehr ebenfalls — skeptisch. Sinnvolle, und in diesem Sinne ‚wahre‘, Erkenntnisse sind durchaus möglich, wobei das Verständnis von ‚Wahrheit‘ als in gewissem Sinne relativierbarer, mindestens falsifizierbarer Vorläufigkeit, die nicht zugleich ihr eigener Endzweck ist, bereits durch und durch skeptisch geprägt ist; eine Umprägung, die als allen dogmatischen Hoffnungen konkurrierendes Paradigma spätestens seit Nietzsche, Freud und anderen wieder einmal philosophische Grabenkämpfe ausgelöst hat. Viele analytisch geprägte Philosophen oder auch Naturwissenschaftler würden Montaigne daher gar nicht erst als einen Skeptiker, sondern gleich als ‚Irrationalisten’ abtun.

Doch Montaigne schränkt den Anspruch und die Macht unserer Vernunft nur ein, spricht sie ihr nicht ab; sieht die Vernunft als eine menschliche Zugangsweise zur Welt, eine ausgezeichnete gar, gleichwohl eine mit limitierten Möglichkeiten und unüberwindbaren Grenzen: [D]ie Vernunft hat mich belehrt, daß eine Sache so unbedenklich als falsch und unmöglich abtun sich des Vorzugs vermessen heißt, die Grenzen und Schranken des göttlichen Willens und der Macht unserer Mutter Natur im Kopfe zu haben, und daß es keine namhaftere Dummheit in der Welt gibt, als diese auf das Maß unserer Geisteskraft zustutzen zu wollen. Wenn wir das, was unserer Vernunft nicht zugänglich ist, Ungeheuer und Wunder nennen, wie viele bieten sich dann nicht beständig unserem Blick?“4

Auch im methodischen Sinne vertritt Montaigne keine Exklusivität irgendeines Zugangs zu den Problemen, derer er sich annimmt, genau so, wie er im engen epistemologischen Sinne eine Erkenntnis der Wahrheit eines Gegenstandes für unwahrscheinlich, im Einzelfalle auch gar nicht erstrebenswert hält. Ein Motto, welches wiederum Nietzsche aufnehmen sollte, bei seinem Fragen nach dem Wert eines Wahrheitsideals, welches sich um die Lebenspraxis nicht schert: [U]nter den Bedingungen des Lebens könnte der Irrthum sein.“5 Auch methodisch jedenfalls hält Montaigne beispielsweise seine feinsinnige psychologische Betrachtungsweise nicht für die einzig legitime, welche konsequenterweise auch nie als Methode ausgeführt wird, obwohl sie immer wieder zum Einsatz kommt. Deutlich wird dieses Primat der erfolgreichen Orientierung im Leben selbst etwa in Montaignes Essai Über die Gewohnheit …“, in der sich ein politisch/religiöser Konservatismus vordergründig wie eine Art kontraintuitive Schattenseite des sonst heiteren, unkonventionellen Skeptikers präsentiert: Die Öffentlichkeit hat sich um unsere Art, zu denken, nicht zu scheren; aber das übrige, wie unsere Handlungen, unsere Arbeit, unser Glück und unser eigenes Leben, sind wir schuldig, ihrem Dienste zu widmen und den allgemeinen Ansichten anzubequemen […]. Denn das ist die Regel aller Regeln und das allgemeine Gesetz, daß ein jeder die Gesetze des Ortes beachte, an dem er steht“. Auch eine versteckte Ironie ist hier natürlich nicht auszuschließen, zumal Montaigne sich ausgerechnet des Sokrates als Beispiel eines Vorzeigebürgers bedient, der in seiner Version trotz der Ungerechtigkeit der Athener Obrigkeit den Giftbecher aus Respekt vor dem nun mal geltenden Gesetze getrunken haben soll. Doch scheint er in der Tat der Ansicht zu sein, dass es höchst zweifelhaft [ist], ob sich ein klarer Gewinn bei der Änderung eines überkommenen Gesetzes finden läßt, sei es, wie es wolle, wie Nachteil aus seiner Umwälzung entsteht“6.

Welche Skepsis aber drückt sich aus in dieser politisch konservativen Haltung, der auch sein äußerlicher Gottesglaube zuzuordnen ist? Eine Skepsis gegenüber allem Neuen, dem man sich unter Aufwand von Lebensenergie erst wieder anpassen müsste? Sicher hätte Montaigne es uns nicht übel genommen, richteten wir hier ein wenig psychologische Spekulation einmal gegen ihn, wonach wir denn seine gehobene gesellschaftliche Stellung als einen möglichen Grund erkennen würden, der ihm den Wert einer Umwälzung aller bestehenden Verhältnisse als sehr zweifelhaft erscheinen lassen haben könnte. Einen geeigneteren Ansatz liefert uns Montaigne aber vielleicht selbst, und zwar erneut einen psychologischen; wir finden ihn nämlich beinahe psychoanalytisch vorwegdenkend über die Ursprünge unserer ‚Gewohnheiten’ spekulieren, und aus dieser Warte zeigen sie ein ganz anderes Gesicht: Ich finde, daß unsere größten Laster schon in der zartesten Kindheit ihren Knoten in unsere Seele legen und daß unsere vornehmlichste Erziehung in den Händen der Säugammen liegt.“ In der Kindheit also vermutet Montaigne an dieser Stelle die wahren Samen und Wurzeln der Grausamkeit, der Tyrannei und des Verrats“, die, einmal unter den Händen der Gewohnheit“7 große Macht über den Menschen gewinnen können, und schließlich als Gewohnheit selbst auf Schritt und Tritt die Regeln der Natur vergewaltigen.“8 Vielleicht, so könnten wir mutmaßen, steht für Montaigne auch hier die Selbst(er)kenntnis des Menschen im Vordergrund, genießt hohe Priorität vor allen weltlichen Ordnungen, welche nur eine Folge der Ersteren sind, und solange wie jene als nachgeordnete und äußerliche ebenfalls unverstanden bleiben müssen.

Schon gar nicht ist Montaignes Skepsis übrigens ‚methodisch‘ in einem descarteschen oder kantischen Sinne, als rein hypothetisches Starkmachen eines imaginierten, dämonischen Feindes, den es auf dem (von vorneherein feststehenden) Weg zur ersehnten wirklichen Letztgültigkeit und gesicherten Erkenntnis noch zu überwinden gelte. Möchte man Montaigne hier irgendwie einordnen (was nicht nötig ist), so käme man schon eher weiter mit einer alltagssprachlichen Dimension des Wortes ‚Skepsis‘; als skeptischer Mensch begegnet Montaigne allem, was er vorfindet, wobei der Gegenstand allein mal ein deutlicheres, mal ein rein relatives, mal gar kein Urteil zulässt.

Es scheint also eine unentschiedene Sache zu bleiben, die Frage nach dem spezifischen Skeptizismus Montaignes. Doch dies mag zum einen bereits im Wesen des Skeptizismus als offenem, ‚freien‘ Denken liegen, zum anderen auch eine individuelle Stärke des Denkers Montaigne sein. Bei ihm ist unter anderem zu lernen, warum ‚unentschieden‘ keinen intellektuellen Fehlschlag bedeuten muss, sondern, dem erweiterten Wortsinne gemäß, auch der Sache nach ‚Ausgeglichenes‘, ‚Ambivalentes‘, ‚Vieldeutiges‘ zu Tage gefördert haben kann. Philosophiegeschichtlich muss noch einmal betont werden, gegen wie viele dogmatische Einflüsse der Theologie und der Philosophie er sich seiner Zeit noch erwehren musste. Als lebensorientiertem, ergebnisoffenem, gewohnheitskritischem Geist; welcher Weg sollte einem solchen attraktiv oder überhaupt als begehbar erscheinen, wenn nicht ein skeptischer? Insbesondere Metaphysik und Ethik steckten zu Montaignes Zeiten tief im dogmatischen Sumpf fest. Wie andere nahm er daher sich selbst als Quelle und Ausgangspunkt, nur eben sich in seinem Alltag, man ist versucht zu sagen: in seiner Lebenswelt, d. h. nicht ‚sich‘ als idealisiertes, abstraktes Ich, das erforscht werden soll: Ich studiere mich mehr als irgend einen Gegenstand. Das ist meine Metaphysik, das ist meine Physik.“9

Heute wirkt gerade seine ethische Skepsis noch immer befruchtend auf uns, und das heißt hier wieder: Skepsis allen vermeintlich endgültigen, metaphysischen Werten und Handlungsmaximen gegenüber, nicht eine grundsätzliche Skepsis wider der Möglichkeit sinnvoller ethischer Aussagen oder Erkenntnisse per se. Mit seinen Verweisen auf die psychologische Onto- und Phylogenese unserer Werte und ihrer gesellschaftlichen Manifestation ragt sein Denken bis in die Gegenwart, als wirkmächtige Figur der Philosophiegeschichte steht er als Alternative zu Descartes am Ausgang des neuzeitlichen Denkens. Sein Wunsch nach Linderung oder gar Heilung der Leiden menschlicher Existenz scheint noch immer nachzuhallen: Die Menschen […] werden von den Meinungen gepeinigt, die sie von den Dingen haben, nicht von den Dingen selbst. Es wäre ein großer Gewinn für die Erleichterung des elenden menschlichen Loses, wenn man diesen Satz durchgängig als wahr erweisen könnte.“10

von JFMS


  1. BLUMENBERG, Hans: Paradigmen zu einer Metaphorologie, Frankfurt 2019, S. 7.↩︎

  2. PLESSNER, Helmuth: Lachen und Weinen. Eine Untersuchung der Grenzen menschlichen Verhaltens, (in: Gesammelte Schriften VII), Frankfurt am Main 2016, S. 360.↩︎

  3. MONTAIGNE, Michel de: Essais Bd. III, Von der Erfahrung, Zürich 1953/2000, S. 853.↩︎

  4. Ebd.: I, Es ist Torheit …, S. 215.↩︎

  5. NIETZSCHE, Friedrich: Die fröhliche Wissenschaft, § 121.↩︎

  6. MONTAIGNE, Michel de: Essais I, Über die Gewohnheit …, Zürich 1953/2000, S. 166.↩︎

  7. Ebd.: I, S. 157.↩︎

  8. Ebd.: I, S. 156.↩︎

  9. Ebd.: III, S. 852.↩︎

  10. Ebd.: I, Daß unsere Empfindung des Guten und Bösen …, S. 90.↩︎


Date
May 14, 2022