Russische Identität: Folklore und schwere Waffen

Nikolai Wassiljewitsch Gogol.Nikolai Wassiljewitsch Gogol.

von Til Eyinck

Die russische Invasion der Ukraine und der seitdem andauernde Krieg sind nicht aus dem luftleeren Raum hereingebrochen. Obschon der mittlerweile geläufig gewordene Ausdruck Putins Krieg” womöglich auch in der Absicht unermüdlich aufgegriffen wird, jene Menschen in Russland rhetorisch zu protegieren, die Distanz zur Haltung ihrer Regierung wahren, so ist doch den meisten Beobachtern des Konfliktes wohl bewusst, dass er nicht nur das Resultat des Befehls eines einsamen Entscheidungsträgers ist.

Dass in der Entstehung dieses Krieges die russische Innen- sowie Außenpolitik, die Nato-Osterweiterung, die Machtkämpfe Chinas und des Westens irgendwie relevante Größen sind, dürfte außer Frage stehen. Dass hingegen selbst russische akademische Rezeption von Folklore als Brandbeschleuniger dieses Konfliktes gewertet werden kann, mag den meisten vielleicht entgangen sein.

In der russischen Zeitschrift Nauchnyi Dialog”, deren Name sich mit Wissenschafts-Dialog’ übersetzen lässt, erscheinen seit Jahren vermehrt in literaturwissenschaftlicher Manier verfasste Artikel, die auch in Folkloregesängen eine genuin russische Identität erkennen wollen.

So manch einer denkt, wenn er mit dem Begriff Folklore” konfrontiert wird, womöglich sogleich an wohlgeordnete Chöre, die eine für Touristen inszenierte, exotisierende und bestenfalls halbwegs historisch akkurate Aufführung eines ansonsten als längst verschollenen geltenden Kulturgutes präsentieren. Einige denken vielleicht auch an Flötenmusik aus den Anden. Tatsächlich ist die Bedeutung des Begriffes nicht leicht einzufangen - einen guten Anfang macht man, wenn man sich vor Augen hält, dass Folklore meistens dann vorliegt, wenn der Autor oder die Autorin des jeweiligen (nicht zwangsläufig musikalischen) Werkes unbekannt sind.

Zusammengesetzt ist das Wort Folklore” aus den Wörtern Wissen” und Volk”. Es steckt in Folklore das Wissen eines Volkes”, so eine weitverbreitete These, weil Menschen Gesänge oder Gedichte dann wiederholen - und dadurch überliefern - , wenn sie etwas daran finden, das ihnen wichtig ist. Wenn sie also aus dem Herzen singen und ihre Seele sprechen lassen, sagt diese romantische Perspektive. Was aus freien Stücken überliefert wird, so die Argumentation, muss demnach selbst wertvoll und anthropologisch interessant sein, da es in Form gedichtgewordener psychologischer Tatsachen die Seele der Menschen, im Zweifel eines ganzen Volkes, widerspiegelt.

Dass Folklore aber auch aus ganz anderen Gründen, z.B. aus Vermarktungsgründen, Zufall oder aus einer politischen Entscheidung heraus überdauern kann und dass sie, je nachdem, wer sie rezipiert, gar nicht repräsentativ für eine ganze Bevölkerung ist, wird im Zuge einer Glorifizierung ihrer Inhalte hingegen schlicht unterschlagen. Jene nach wie vor weitverbreitete Seelen-Spiegel-Begründung hinkt aber nicht nur auf argumentativer Ebene, sie lässt sich auch allzu leicht in nationalistischer Ambition instrumentalisieren:

Der 2020 in Nauchnyi Dialog erschienene Aufsatz Features of the Folk Ideas - Reflection about Fate in the Signs and Superstitions of Social groups in Vladivostok” versucht beispielsweise über eine stichprobenartige Bürgerbefragung die Rezeption von russischem, folkloristischem Gedankengut zu deuten. Die Studie selbst wird bereits sehr früh im Text mit den folgenden Worten begründet: Die Relevanz dieser Arbeit ist gegeben durch ein wachsendes Interesse an verschiedenenArten der regionalen Umsetzung der gesamtrussischen Tradition, an den Besonderheiten der Funktionsweise traditioneller Folkloregattungen im 21. Jahrhundert und an verschiedenen Formen der Darstellung des nationalen Weltbildes”. Ganz ähnlich verhält es sich mit weiteren dort erschienenen Artikeln, die sich mit Folklore beschäftigen.

Verborgene Tradition

In Anbetracht der Ereignisse des Ukrainekrieges ist womöglich der Inhalt des 2017 erschienenen Aufsatzes Gogol or Provincial in the Capital: from Ukraine to St. Petersburg” besonders sprechend. Obwohl es sich hierbei nicht um eine Untersuchung von Folklore handelt, findet die Spiegel-Hypothese auch hier ihre Anwendung; bereits im Abstract, der vorangestellten Zusammenfassung, liest man dort von Gogols künstlerischer Entwicklung, die angeblich mit einer Art geografisch-biografischer Metapher aufzuschlüsseln sei: […] von der provinziellen Dikanka’ zum universellen Horizont. Der Artikel untermauert die These, dass Petersburg im Gegensatz zu Kleinrussland Gogols Optik bricht (und formt)”. Der aus der Ukraine (Kleinrussland) stammende Gogol habe also das eigentliche Russland nötig gehabt. Dieses Mindset bestätigt sich dann im Artikel selbst.

Das Motiv der Invasion findet sich unmittelbar darauf wieder - jedoch ist es die Ukraine, die einfällt; ein rhetorisch seltsam verklausuliertes Zitat teilt dem Leser mit: Es wird [im Artikel] darauf hingewiesen, dass der Schriftsteller [Gogol] sich jedoch nicht schuldig macht: Man kann (mit Piksanow) vertreten, dass es eine Invasion der ukrainischen Welle mit Gogol an ihrer Spitze’ in der russischen Kultur gegeben hat”.

Die aus solchen Textbeispielen sprechende Idee einer verborgenen, beinahe mystischen Tradition, die nur darauf wartet, in folkloristischen bzw. literarischen Artefakten erst diagnostiziert, dann rekonstruiert und darüber glorifiziert zu werden, wird aber in aller Regel den Artefakten selbst nicht gerecht. Und welches Beispiel böte sich hier zur Illustration besser an, als ein Ausschnitt einer Erzählung Gogols, die ausgerechnet mit dem Versuch beginnt, dem Leser vorzugaukeln, ihre Inhalte seien allesamt tradierter Natur?

Gleich den Titel seiner Geschichte Der Wij” kommentiert Gogol nämlich mit einer Anmerkung, in der geschrieben steht: Der Wij ist eine kolossale Schöpfung der Volksphantasie. […] Diese ganze Erzählung ist eine Volksüberlieferung. Ich wollte an ihr nichts ändern und gebe sie hier fast ebenso schlicht wieder, wie ich sie gehört habe”.

Unnachgiebige Arbeit am Text führte allerdings zu der Einsicht, dass Der Wij” kein eigentliches Volksmärchen, sondern vor allem das Resultat der Kreativität und Zitierfreudigkeit Gogols ist und dass die einleitende, ihre volkstümliche Herkunft beteuernde Behauptung unter dieser neuen Prämisse nicht einfach zum Täuschungsversuch mutiert, sondern als eine Form der Leserführung aufgefasst werden kann. Damit die ukrainischen sowie russischen Lieder, Gedichte und Texte nicht endgültig zum Politikum werden, bedarf es kritischer Rezipienten.

Autor
Til Eyinck ist Romanist und promoviert zur Sinnkonstitution fiktionaler Rede. Er spielt und singt Folk mit János e Fiammetta.

Der Artikel erschien zuerst im Feuilleton der Welt unter dem Titel Russische Identität: Der Folklore-Krieg.


Date
April 29, 2022