Das endliche und das unendliche Studium

Der Blick in den Himmel als Urbild der Theorie mag unser eigenes philosophisches Beginnen ein Stück weit romantisch verklären - früher blieb einem jedenfalls nichts anderes übrig. Über die fernsten Dinge konnte man sich einen Überblick verschaffen, am irdischen Klein-Klein dagegen war man zu nah dran, der klare Blick war hier verstellt. © by Hamishtodd1Der Blick in den Himmel als Urbild der Theorie mag unser eigenes philosophisches Beginnen ein Stück weit romantisch verklären - früher blieb einem jedenfalls nichts anderes übrig. Über die fernsten Dinge konnte man sich einen Überblick verschaffen, am irdischen Klein-Klein dagegen war man zu nah dran, der klare Blick war hier verstellt. © by Hamishtodd1

Chronik einer geistigen Erfahrung

Am Anfang des Studiums stand der Wille zum Wissen. Er strebte wie ein Turm in den Himmel, um den Blick in die Ferne zu werfen. Es zog uns in die unermessliche Weite des Himmels. Damit konnte uns kaum ein Studium dienen, keine Ausbildung und kein Nebenjob. Unser vermessenes Erkenntnisinteresse an der Unendlichkeit war nicht spezifiziert wie alles andere, was einem an der Universität heutzutage begegnet, sondern auf das Ganze gerichtet. Bescheiden konnte dieser Erkenntnisanspruch hingegen genannt werden, sofern wir alle Wissensangebote der Teildisziplinen höflich ablehnten, um uns mit dem zu begnügen, was übrigblieb: dem Ganzen, das in keiner Disziplin als solches adressiert wurde. Doch wer waren wir überhaupt? Zwei neugierige, blauäugige Studenten namens Bruno und Jakob, die gerne verstehen würden, was der Fall ist. Vorerst hatten wir jedoch bloß eine Matrikelnummer und eine Mensa-Karte erhalten. Damit waren wir dem Himmel, unserem Erkenntnisziel keinen Schritt näher gekommen. Wie kam man also ins Denken? Wir schauten in den Himmel und erweckten mit diesem Sinneseindruck die Spontaneität des Denkens. Die θεωρία ist seit den Tagen der hellenischen Philosophie wortwörtlich die Betrachtung und Schau der Dinge. In der Gestalt des Vorsokratikers Thales ist sie der staunende Blick in den Himmel, der Theoretiker ein Himmelsschauer wie Hans-guck-in-die-Luft. Der Himmelsblick lässt uns erahnen, dass wir Teil eines größeren Ganzen sind, in dem wir ein winziges Häufchen Materie darstellen und dass der Raum sich potentiell ins Grenzenlose erstreckt. Die Weite des Himmels ist die optische Vorschau der Weite der Welt, der Größe des Planeten, der Milchstraße, des Universums. Wir ahnen, dass uns die Frage, wovon der Himmel, die Summe der Himmelsausschnitte, die Atmosphäre, die Planeten, die Sonnensysteme ihrerseits Ausschnitte sind, einer Welt annähern, die sich vor dem geistigen Auge unendlich weit ausdehnt. Auf der Suche nach dem richtigen Größenmaß nehmen wir das Band der Zeit und versuchen mit ihm Welt und Himmel zu vermessen - erfolglos: die Bewegung von Wolken am Himmel lässt noch den Schluss auf die Wirklichkeit der Veränderung und damit einer Zeitlichkeit zu, doch an der konturlosen azurblauen Fläche läuft die Zeit ins Leere. Sie und alle anderen menschlichen Zugangsformen zur Wirklichkeit finden keinen Zugriff, die Natur gibt die Anschauung einer unendlichen Einheit — “Sein ohne alle weiteren Bestimmungen”, wie es am Anfang der Wissenschaft der Logik“ von Hegel heißt. Doch diese bestimmungslose Allhaftigkeit sagt uns ebenso viel wie wenig, denn ohne sie von etwas zu unterscheiden, bliebe sie ein leerer Begriff und eine blinde Anschauung, kurzum unbestimmt, ein Gedankending oder ein rahmenloses Bild. Doch ließ sich ihre Erfahrung nicht einfach verwerfen, denn sonst hätten wir ja nur träumerisch unserer Phantasie nachgehangen. Da war ja etwas. Aber was? Etwas, das man nicht erkennen kann, mit dem sich aber erkennen lässt. Als unsichtbaren Maßstab brachten wir den Himmel in unser Denken ein. Wir konnten, wendeten wir uns von der Himmelsschau zur Nabelschau, alle Aspekte unserer menschlichen Existenz in seinem Licht betrachten: unser Denken, unser Wahrnehmen, unseren Körper, unsere Herkunft, unsere Kultur, unsere Gesellschaft. So wie der Himmel über jedem Fleck der Erde ruht, konnten wir jede endliche Größe des Denkens und Erlebens auf seiner Schablone dimensionieren, das Endliche gegen das Unendliche ins Licht halten.

Hierbei kamen wir zu zwei Schlussfolgerungen: Das Irdische und Zeitliche war im Vergleich mit dem Überirdischen und Zeitlosen eine flüchtige Erscheinung, eine kaum erwähnenswerte Angelegenheit, zweitens und zugleich aber die einzige Zugangsstelle zu einer Anschauung und damit einer Wirklichkeit des Zeitlosen und Ewigen. Nur im Auge des Subjekts spiegelt sich eine Welt, sie sei noch so groß, und nur dem Subjekt dämmern die höheren An- und Einsichten transzendenter Entitäten. Wenn wir also Nanometer in den großen Jahresringen der uralten Erde und Eintagsfliegen in der alterslosen Galaxis waren, so bildeten wir zugleich die Wasseroberfläche, in der sich der Himmel anschauen konnte und auf der nachts die Sterne des Universums schwammen. Für wen war denn diese Welt, wenn nicht für jemanden, der sie sah, hörte, schmeckte, roch, befühlte und der sie in der Sprache aufmerksam und liebevoll bedachte? Kants Ding an sich — das war eine Kinovorstellung für niemanden, eine Vorstellung für einen Saal ohne Besucher. Der Archetypus intellectus“, dem sie gewidmet war und dem sie entsprang, bewegt sich jenseits der Grenze des Erkenn- und Wahrnehmbaren im reinen Denken und diese Grenze war zugleich der gedachte Punkt, von dem aus sich alles wahrnehmen und erleben ließ, zu dem hin aber die Flut der Wahrnehmungsbilder versiegte. Philosophie oder Denken war in diesem Sinne die Wissenschaft von der Grenze und jeder Denker musste sich früher oder später vom Begriff der Grenze Rechenschaft ablegen. Kant und Hegel, die zwei 8000er Berge, die am Eingang zur modernen Philosophie thronten, stritten in einem Gipfelgespräch über Wesen und Funktion der Grenze. Während Kant sie als bedingungslose, indiskutable Schranke begriff, hinter der nur noch das numinose Ding an sich ein schwaches Lebenszeichen eines jenseitigen Nous gab, bestimmte der spekulationslustige Hegel grenzsetzendes als grenzüberschreitendes Verfahren und sprach dieses Vermögen dem Geist zu. Wenn ich eine Grenze ziehe, dann weiß ich, warum und wovon ich das Begrenzte trenne, die Grenze wird von der anderen, der jenseitigen Seite gezogen — „das Bewusstsein unterscheidet etwas von sich, worauf es sich zugleich bezieht“, hieß es in der Einleitung der Phänomenologie des Geistes“. Die Grenze hat somit einen Doppelsinn: sie schafft Trennung und Berührung zweier Bereiche.

Diese Gedankenwelt des Idealismus führte uns mit ansteigender Abstraktion, den Höhenmetern im Denken, unweigerlich auf umnebelte Gebirgspfade, die im Zwielicht einer kalten Sonne lagen. Die Luft wurde dünner und der luftleere Raum der transzendentalen Logik war ganz nah. Bevor wir den Gipfel unserer intellektuellen Aufstiegsbewegung jedoch erreichten, kreuzte ein Eremit, ein Hüter des Berges unseren Weg. Er bewohnte die Höhlen und Gänge nahe der Bergspitze und besetzte einen Wachposten vor dem Gipfelkreuz. Aus einem Knäuel von Lumpen, übergeworfenen Tierfellen und ungekämmten Haaren blitzten uns wütend zwei Adleraugen an. Wir hielten ihn zuerst für ein Raubtier: Was gehen euch sterbliche, endliche Gravitationszentren der Eitelkeit und der Machtgier die Unendlichkeit des Himmels an?”, fauchte er uns an. Er ließ uns keine Zeit zum Antworten und erklärte eisern: Ihr habt euch schwer verirrt, ihr Suchenden”, wobei sein mächtiger Schnauzbart wippte. Was habt ihr so weit über allen menschlichen Dingen verloren und mit welchen Atemmasken und Werkzeugen glaubt ihr in dieser lebensfeindlichen Umwelt durchzukommen?” Nietzsche klärte uns auf: Wir waren auf schwere Ab- und Irrwege geraten, die transzendenten Ideen — Gott, Freiheit, Unsterblichkeit — waren Irrlichter, falsche Wegweiser der Vernunft, die uns aus dem Tal des Lebens herausgeführt hatten. Er belehrte die Vernunft eines Besseren: Ihr Versuch, ein von den menschlichen Fehlbarkeiten und Mängeln gereinigtes Wissen des Wahren zu destillieren, das absolute Geltung beanspruchen durfte, war ein philosophisches Hirngespinst. Das Ewige, Unveränderliche kurzerhand mit dem Wahren gleichzusetzen und umgekehrt das Vergängliche und Veränderliche als das Unwahre und Unwesentliche zu stempeln, das war für Nietzsche Metaphysik, eine verlogene Bewertung, die sich als logische Wahrheit verpuppt und die Menschheit Jahrhunderte genarrt hatte. Die größte Unverschämtheit hatte sich Platon erlaubt, der seinen Ideen, den Etiketten des Wahren, Plätze am zeitlosen Ideenhimmel reserviert hatte und sie zum Wesen erklärte, während er die gesamte sinnliche Welt der Erscheinungen zum Schein verklärte. Indem Nietzsche die gesamte bisherige Philosophie in ein Theaterstück übersetzte, die abstrakten Denkoperationen zu anschaulichen, psychologischen Akten literarisierte, bekamen wir ein Auge dafür, welches Spiel hier eigentlich gespielt wurde.

Auch von anderer Seite belehrte man uns, dass der Quell der reinen Vernunft nicht so rein war, wie ihn der deutsche Idealismus gern sähe: Marx hatte Hegel bekanntlich vom Kopf auf die Füße gestellt, als er das Bewusstsein aus dem Sein (der ökonomischen Verhältnisse) erklärte und nicht als die intelligible Kristallschicht unter der Wirklichkeit betrachtete. Kierkegaard hatte in seiner psychologischen Philosophie zu gleicher Zeit das Bewusstsein als eine Error-Funktion analysiert, eine periodische Dezimalzahl, die niemals in einem letzten Grund zur Ruhe kommt, sondern dessen Einheit und Identität fortwährend in Ambivalenzen zu Bruch geht. Und spätestens zu Beginn des 20. Jahrhundert wurde unter Freud die Überzeugung Schopenhauers und Nietzsches, dass die Vernunft ein schwaches, machtversessenes Organ ist, das den Trieben und dem Willen des Menschen weit unterlegen ist, in einer allgemeinen Theorie der Psyche schulbereitend formalisiert. Die gesamte abendländische Metaphysik war nach Freud und Nietzsche ein Beispiel ins Sublime umgelenkter Triebenergien. Den höchsten Ausdrucksformen des Intellekts war nach christlich platonischer Codierung die niedrigste Form des menschlichen Seins beigemischt, die Libido und die Sexualität. Die sexuelle Natur eines Menschen wimmelte noch in seinen strengsten Traktaten. Die Wahrheit war eine Erfindung, eine Strategie geboren aus den Wünschen und Machtphantasien des Ichs, der unergründlichen Vielfalt und Verschlüsselung der Psyche. Der Logiker war ein implodierter Choleriker, der seine Aggressionen in logische Formeln bündelte und absetzte, um mit ihnen die Realität unter Kontrolle zu bringen. Die Logik selbst war nichts anderes als eine ästhetische Präferenz für die sublime Reinheit im Ausdruck, ein puristischer Stil. Auch hier also verband die Grenze umso mehr, je schärfer sie gezogen worden war. Nietzsche hatte die Welt wie einen großen, unendlichen Text begriffen, zu dem es seitens des Menschen immer nur Interpretationen geben könne, niemals endgültige Wahrheiten, keine logische An-Sich Dimension, obschon sich jeder Logiker als Stilist natürlich nur beleidigt fühlen konnte. Und dass auch diese mit Wahrheitsanspruch versehene Deutung der Dinge eine unter vielen Interpretationen war, hielt er nicht für einen Selbstwiderspruch seiner Theorie, sondern für ihren performativen Beweis. Sollten wir also umsatteln, kehrt machen und zurück in das Tal des Lebens hinabsteigen? Sollten wir Psychologen und Philologen werden? Kenner der Psyche und Deuter des Wortes, Leser von modernen Romanen? Aber was erwartete uns genau im Tal? Gab es dort philosophische Arbeit zu tun? War diese Technik der Entlarvung, die Nietzsche betrieb, erlernbar oder überhaupt erstrebenswert? Denn für Nietzsche Partei zu ergreifen, hieße ihn grundsätzlich missverstehen.

Wanderungen durch die Täler des Lebens

Das Tal des Lebens war der gemeinsame Name für die vielen Täler, die an den Ausläufern der großen Gedankengebirge lagen. In jedem, so versprach uns Nietzsche, wachse ein eigener Baum der Erkenntnis. Seine Philosophie war eine Karte von Wander- bzw. Denkwegen, die durch die Gebirge in die umliegenden Täler führten. Wir verließen uns auf seinen Navigationssinn und ließen uns leiten: Zunächst einmal war die sehr gewichtige Sentenz Nietzsches ernst zu nehmen, die gesamte Philosophie sei ein Missverständnis des Leibes“. Es waren immer wir Menschen, die Spekulationen über letzte Dinge und Prinzipien anstellten und wir steckten alle in Körpern. Alle Gedanken waren nicht nur durchsetzt von Trieben, Wünschen und Bedürfnissen, sondern ebenso rückgebunden an unseren Stoffwechsel. Der Leib war, seit Descartes den Dualismus der Substanzen als das Programm der Neuzeit installiert hatte, in den toten Winkel philosophischer Reflexion geraten. Die res cogitans koppelte sich unter großer, intellektueller Anstrengung von allen irdischen, körperlichen Bezügen ab und schwebte losgelöst im irrtumsfreien Raum logischer Gültigkeit. Platons Hass auf die Materie und seine Vorstellung des Körpers als Gefängnis der Seele wurde so an der Schwelle zur Neuzeit im cartesianischen Entwurf des naturwissenschaftlichen Paradigmas eines Subjekt-Objekt-Gegensatzes (res cogitans-res extensa) betoniert. Körper-, sprach-, kultur-, und weltvergessen schwebt die res cogitans im abstrakten Raum — eine philosophische, begriffliche Weichenstellung mit fatalen, ja unheilvollen Folgen deren Ausmaß erst im 20. Jahrhundert absehbar werden sollten. Nietzsche pries demgegenüber die große Weisheit des Leibes an und verlief sich in seinen späten Schriften in obskure Ernährungsprogramme, deren philosophische Relevanz man ernsthaft in Frage stellen sollte. Was er aber vor allen Dingen ins Feld führte, war das Leben, gesehen als eine philosophische Kategorie: das perpetuum mobile der Natur, das im Steigen und Sinken, im Fluten und Verebben, im Werden und Vergehen eine undefinierbare Hintergrundstruktur für alles Handeln und Denken der Menschen bildet. Das Leben, sowohl begriffen als der wabernde, fließende Grund aller Erscheinung als auch mit Blick auf den Erkennenden als die physiologische, organische Existenz des Menschen, ging all seinen Erkenntnistrieben voraus, die Erkenntnis und die Vernunft waren also an sie rückzubinden und nicht umgekehrt, wie es ein Absolutismus der Vernunft dekretieren würde. Lukács bezeichnete das Leben als eine Anarchie des Helldunkels“, weil es sich niemals zu einer vollen Gänze abrundet, sondern immer gebrochen und fragmentiert erfahren wird. Eben dieser anarchische Charakter des Werdens, des heraklitischen πάντα ῥεῖ reinkarnierte in der Form von Nietzsches Philosophie. Was die Logik und die Transzendentalphilosophie, deren Ahnherr Descartes war, penibel aus ihrer Erfassung der Welt marginalisierte, dem sollten bei Nietzsche alle Tore weit geöffnet werden: Kontingenz. Einschlag von Kontingenz bedeutet, dass etwas auch anders sein kann und dass darüber hinaus alles Notwendige, die Kategorientafel etwa, geworden ist und es nicht bis in alle Zeit sein wird. Diesen Schlag gegen die hehren Ideale der Metaphysik führte Nietzsche mit den philosophischen Konsequenzen der Evolutionstheorie Darwins: Wir waren nicht immer die neunmalklugen Herdentiere gewesen, die Nietzsche als moderne Verfallsformen verspottete. Wir waren wie der Tierkreis, dem wir entsprungen waren, der Evolution unterworfen. Wir waren ein sehr unwahrscheinliches evolutionäres Nischenprodukt, das als einzige Lebensform die merkwürdige Veranlagung besaß, über sich selbst nachzudenken. Unsere eine Seite, unser Drang zur Vergeistigung wollte es sich auf Gedankenwolken im Himmel einrichten, während wir mit einem Fuß noch im animalischen Reich der Triebe und Instinkte steckten. Doch all dies hatte sich entwickelt, war nicht immer so gewesen und konnte sich ändern. Die Macht des Zufalls, der für die Evolutionstheorie eine große Rolle spielt, wurde von Nietzsche gegen die Metaphysik gelenkt. Ihr sämtlichen Begriffe, Ideen und Axiome waren einem Akt der Verzeitlichung und Relativierung zu unterwerfen. Der Erbfehler aller Philosophen“ sei ihr Mangel an historischem Sinn“, kreidete Nietzsche der abendländischen Philosophie an. Ein erstes Tal des Lebens war damit erschlossen: Das Tal der Geschichte.

Der deutsche Idealismus laborierte bereits vor Nietzsche an dem Widerspruch, die zeitlosen Begriffe und Ideen in und mit der Zeit zu denken. Es war die Rede von der werdenden Gottheit“. Das Absolute wurde nicht länger als statisch, unveränderlich und ewig gedacht wie in der platonischen Ideenlehre des Symposiums, sondern als eine Idee, die in und mit der Geschichte zur Einheit mit sich kommt. Heraklit, in der Antike als der Dunkle“ bekannt, hatte im Kindesalter des abendländischen Denkens bereits den paradoxen Gedanken festgehalten, dass das einzig Bleibende in der Zeit genau das Gegenteil des Verharrenden und Statischen ist, nämlich die Form des Zeitlichen: der Wandel. Der Kronprinz der Philosophie, Schelling und der selbsternannte Staatsphilosoph Hegel entwarfen je ein philosophisches System, das die Bewegung des Begriffs, seine Entelechie und den Fortschritt in der Geschichte parallelisierten, ja ineinander blendeten. Sie arbeiteten an einem System, das einer Metaphysik des Wandels darin Rechnung trug, dass es den Prozess der Erkenntnis und der Wahrheitsfindung, den stufenhaften Aufstieg zum absoluten Wissen als wesentlichen Bestandteil des Absoluten selbst beschrieb. Es waren Systeme, die sich selbst zur Aufführung brachten und in denen Erkennen, Denken und Sein fortschreitend konvergieren sollten. Nicht nur Heraklit wurde folglich bedacht, sondern ebenso sein Antipode Parmenides und seine Idee einer Einheit von Sein und Denken und der Geschlossenheit und Einheit des Seins. Das Sein ist nur denkerisch zu fassen und es ist eines. Wie es sich denn für ein kohärentes System gehört, duldeten auch Hegel und Schelling kein Außerhalb zu ihrem philosophischen System: Das Außerhalb ist bei Hegel allenfalls denunziert als der dunkel gelebte Augenblick oder aber die faule Existenz. Es ist mit Parmenides ein irrelevantes, sinnloses und unzugängliches Nichtsein. Weil das Nichtsein per se weder denk- noch wahrnehmbar ist, ist es eben nicht und alles Seiende steht daher in fernerer oder näherer Beziehung zum Geistigen, alles ist bei Hegel ansatzweise intelligibel. Mit seinem Begriff des Geistes hatte er einen Totalnenner konzipiert, der allen gemeinsam sein sollte: Natur, Geschichte, Kunst, Ökonomie, Logik sowieso und Religion.

In einer eigentümlichen Liebe zu allem, was vor der Erfahrung liegt, was demzufolge eben nicht von Kontingenz bedroht ist, bohrte sich der deutsche Idealismus tiefer und tiefer in den Anfang des Denkens. In auffälliger Selbstbezogenheit glaubte die idealistische Subjektphilosophie auf Kant aufbauend, mit dem transzendentalen Ego, dem ich denke“, das alle meine Vorstellungen muss begleiten können“, den Grundstein für das Haus der Vernunft legen zu können. Das Ich war der Faden, mit dem sich alle Wahrnehmungen, Erkenntnisse, Gedanken und Ahnungen zur Einheit verweben ließen. Jedes Inputsignal der mannigfaltigen Erscheinung ist uns in den Bedingungen unserer Subjektivität vermittelt. Dazu gehörte nicht nur das Ich, auch Raum und Zeit gingen allem Vorstellen und Erfahren als deren Bedingungen voraus, bildeten somit dessen Konstitute. Doch woher überhaupt die Suche und Sucht nach dem Anfänglichen, dem Vorausliegenden? Warum war das Apriori die stärkste Währung des Denkens geworden? Den Anfang ausfindig zu machen, hieß Vorher da sein zu wollen, hieß das Folgende nicht am letzten Ende der Bedingungen, sondern im Bedingungslosen vom Anfang her in den Blick nehmen zu wollen. Das Subjekt wollte in psychoanalytischer Beschreibung vom Sohn zum Vater werden, sich selbst als sein Erzeugnis wiedererkennen und damit vollkommene Autonomie erlangen.

Der Erkenntnisanspruch, ein umfassendes, philosophisches System zu entwickeln, wurde im 20. Jahrhundert von Husserl neu formuliert. Die Phänomenologie machte das Bewusstsein, später den Leib zum zentralen Beobachtungsgegenstand ihrer Theoriebildung. Was spürten wir, fragte sie mit nüchternem Forscherblick, wenn wir dieses oder jenes sahen, schmeckten, dachten oder für wahr hielten? Mit ihren minutiösen, dokumentarischen Detailbeschreibungen leistete die Phänomenologie eine Inventarisierung des einzelmenschlichen Bewusstseins, eine Fotogalerie aller Bewusstseinsakte. Sie arbeitete an einer Rückkopplung aller Transzendentalien an die (leibliche) Wirklichkeit derjenigen Subjekte, die sich auf sie besinnen. Sie wollte den Riss zwischen empirischen Erkenntnissen, Empfindungen und transzendentalen, der seit Descartes das neuzeitliche Bewusstsein durchzog und den Kant mit seinem rigorosen Dualismus vertieft hatte, bewusstseinsimmanent aufheben. Alles, was ist, ist uns bewusstseinsmäßig gegeben. Mit dem Bewusstsein als dem kleinsten, gemeinsamen Nenner wollte Husserl den uralten, platonischen Dualismus der Metaphysik in eine umfassende Anschauung der Welt umtopfen, denn es gab laut Husserl eben nur eine Welt“ und das sei by the way die, in der wir leben.“ Mit der Verschiebung des Fokus auf das Bewusstsein wandelte sich die Fragestellung vom Was und Warum zum Wie. Ausgangs- und Zielpunkt phänomenologischer Betrachtung war die Reflexion auf die Form, wie uns Dinge im Bewusstsein gegeben sind. In einer seiner berühmtesten Schriften untersuchte Husserl, wie uns die Zeit im Bewusstsein erscheint. Indem er beschrieb, wie die Töne einer Melodie als unterscheidbare Jetztpunkte im Bewusstsein ein- und ausfahren, wie das wahrgenommene Jetzt sich ständig differenziert in ein gewesenes und noch nicht seiendes Jetzt, das durch eine Vergegenwärtigung des Gewesenen und eine Antizipation des Werdenden gebündelt wird, analysierte er die transzendentale Struktur des einzelmenschlichen Zeitbewusstseins. Am Jetzt war nicht vorbeizukommen, es gab in seiner Flüchtigkeit und seinem Entzug ein Grundrätsel des Seins auf. Und diejenigen Philosophen, die es seit Platons und Aristoteles´ Tagen als ihre Aufgabe ansahen, auszusprechen, was ist, mussten sich dem Jetzt stellen. Das Jetzt des ersten Teils dieses Satzes ist ein anderes als das, welches jetzt ist. Die Sprache kommt dem Sachverhalt in diesem Fall zupass, denn einerseits berücksichtigt sie die Sukzession der Jetztpunkte, indem sie die Wörter nacheinander spricht, setzt und schreibt und andererseits leistet jeder sinnvolle und vollständige Satz die Synthese einer Sinneinheit eines Augenblickes: Dieses ist jetzt. Aber war der Sinn der Taktgeber des Seins? Oder genauer: war die Zeit nicht die Bedingung für die Entstehung von Sinn? An Husserls Tönen einer Melodie machte das Bewusstsein die Erfahrung, dass jede Sinneinheit eine werdende ist, das fließende Element des Zeitlichen zeigt sich darin, dass der gegenwärtige Ton unablässig in die Vergangenheit absinkt, um einem neuen zu weichen. So wird die Gegenwart permanent vom Abbruch des Gegenwärtigen ins Vergangene und vom Einbruch des Künftigen ins Gegenwärtige synthetisiert. Die Ganzheit des sinnlich-akustischen Eindrucks entsteht, indem das Bewusstsein die bereits gehörten Töne mit den gegenwärtigen zu einer Einheit zusammenschließt und offenhält für die künftigen Töne. Die Gestaltpsychologen würden sagen, dass uns Gegenstände immer schon in Gestaltform gegeben sind. Obwohl die Gegenwart nämlich nicht mehr als ein Hauch, ein Flackern war, konnte Husserl durch die Begriffe der Re- und Protention erklären, wie uns ein Ganzes in der Zeit zu Bewusstsein kommen kann. Die Retention vergegenwärtigt das Vergangene und behält es im Gedächtnis und die Protention antizipiert den weiteren Verlauf der Melodie, sodass wir drei Gegenwartssegmente zusammenschließen können: eine vergangene Gegenwart, eine gegenwärtige Gegenwart und eine künftige Gegenwart.

Das Jetzt war tückisch, denn es war zugleich der einzigartige, unmittelbare Zeitpunkt, stand aber umgekehrt für jeden einzelnen Punkt in der Zeit ein. Wie konnte man dieser Paradoxie entgehen? Indem man sie begeht, indem man sie selbst als die Lösung für das Problem ansieht, das sich mit diesem Perspektivwechsel in Luft auflöst. Für Hegel waren Widersprüche die Motoren der Denkbewegung. Das einzelne Jetzt war ein Besonderes und schlug, wie Hegel im ersten Kapitel seines frühen Hauptwerkes Phänomenologie des Geistes“ demonstrierte, in eine Allgemeinheit um. Aufgrund dieser natürlichen Paradoxie des Zeitlichen ersann Hegel eine dialektische Bewegung, die einen langwierigen, komplexen Prozess der Selbstentfaltung des Geistes lostrat.

Ein Menschenleben und erst recht das Leben eines Denkers hat ausreichend Zeit zur Kontemplation, um nicht nur über das rätselhafte Wesen der Zeit nachzudenken. Nietzsches meist provisorisches Begriffswerkzeug war ohnehin nicht fein und filigran genug, um einem so flüchtigen Wesen wie der Zeit anders als in Bildern auf die Spur zu kommen. Sich stundenlang den Kopf über die Zeit zu zerbrechen, hätte er als Zeitverschwendung abgetan. Was ihn immer wieder beschäftigte, war die Frage nach dem individuellen Lebensglück, der großen Gesundheit: Er rückte die Frage nach dem guten Leben in das Zentrum seiner Philosophie und hatte wie kein Zweiter vor ihm über die Vielfältigkeit des Krankseins und die Komplexität pathologischer Zustände aller Art nachgedacht. Wenn wir uns den Gedanken an Gott, den Besitzer des Himmels, künftig sparen konnten, uns das Jenseits als Projektionsfläche abgewöhnen mussten, so blieb uns die kurze Zeitspanne eines irdischen Daseins. Philosophie konnte dann als immanente Praxis verstanden werden, die das gute Leben zu ihrem letzten Ziel hatte und auf dem Weg dahin eine Eristik lehrte, mit der man im Seminar und in den Pausen am Kaffeestand die Kommilitonen und an Weihnachten die Familie fulminant an die Wand reden konnte. Was hielt uns dann noch davon ab, hier und jetzt ein glückliches, gerechtes und gutes Leben zu führen? Laut Nietzsche nur wir selbst, die wir durch eine fundamentale Fehlleitung und Fehlzüchtung unserer Instinkte, durch die Jahrtausende lange religiöse Benebelung unseres Selbstwertgefühls, in einer lebensfeindlichen und selbstverneinenden Moral sozialisiert worden waren. Die asketischen Ideale des Christentums — Selbstlosigkeit, Demut, Scham –, diese als Tugenden verkleideten Giftstoffe domestizierten den Menschen zu einem zahmen Artgenossen, der sich von den modernen Ideen — Sozialismus, Demokratie und Parlamentarismus — streicheln ließ. Dagegen protestierte Nietzsche lautstark; zusammen mit seinem Vorgänger und Vorbild Schopenhauer gehörte er zu der Sorte Philosophen, die sich aufs löwenhafte Brüllen verstanden und ihre Gegner zum Duell forderten. Er beobachtete eine kollektive Verniedlichung des Menschen und wollte das, was christlich als das Böse verteufelt wurde, das er zu einem guten und unentbehrlichen Teil des menschlichen Wesens rechnete, zurück in die Manège führen. Was wir da blind betrieben, war Selbstversklavung. Ein raffinierter Psychologismus und eine Kunst der Entlarvung waren Nietzsches Mittel der Kritik, um die eigentlichen Interessen hinter den Idealen ans Licht zu bringen: den Willen zum Nichts, die grenzenlose Selbstverachtung als Selbstliebe verpuppt, die Geißelung der fleischlichen Begierde im Namen eines erfundenen Jenseits. Schopenhauers Erbe einer psychologischen Entlarvung metaphysischer Denkweisen schlug ein: Überall diagnostizierte Nietzsche mit seinem Mentor das metaphysische Bedürfnis“, überall tarnten Denker, Priester und Wissenschaftler dieses Bedürfnis, indem sie es als „Objektivität“, als logisches Gesetz“ oder als eben metaphysisches Wesen“ anpriesen. Letztlich waren diese vermeintlich axiomatischen Zusammenhänge aber durch nichts in der Sache begründet oder begründbar. Was die Sache selbst sei, das können wir schlechterdings nicht sagen. Wir können hingegen beobachten, dass es einen erstaunlichen Willen gibt, der Nichtigkeit des Daseins eine positive Bestimmung zu geben, einen Halt in ihr zu finden, eine Struktur, eine Ordnung, am besten eine intelligible Beziehung zwischen Sein und Denken. Unsere Erkenntnis dieser allbeherrschenden Prinzipien ist von dem Interesse geleitet, das Formlose zu formen, das Grenzenlose in Grenzen zu weisen, ja das Unbegreifliche zu begreifen. Eine stringente, begriffliche Deklination der Welt und der in ihr vorkommenden Dinge hatte den Effekt, dass die Welt nicht länger ein unheimliches, unberechenbares und ungezähmtes Etwas war, sondern sich mehr und mehr zu einem vertrauten Ort, ja einer Heimat wandelte. Wenn man diese Erkenntnisse mit dem Begriff des Erkenntnisinteresses durchleuchtete, konnte man zu anthropologischen Metaerkenntnissen kommen: Der Mensch eignet sich seine Umwelt in Form von Begriffen philosophierend an, die für ihn eine Schutzfunktion erfüllen. Sprachlich ordnet er das ursprüngliche Chaos und schiebt der natürlichen Realität eine Struktur unter, die ihm zupasskommt, so etwa betreffs des Problems der Zeitlichkeit: Wie ein Wort nur auf das vorangegangene folgen kann, so folgt per Analogieschluss auch ein Moment auf den nächsten — egal was uns physikalische Theorien lehren wollen. Mithilfe der Begriffe ist aber zugleich alles immer zur Hand, auch wenn es sich um Zukünftiges oder Vergangenes handelt. Die Phantasie, nüchterner: das Vorstellungsvermögen, ist das ultimative Werkzeug im menschlichen Werkzeugkasten, da sie räumliche wie zeitliche Distanzen gleichermaßen mühelos überbrückt. Anthropologisch betrachtet überführt Sprache alles in den Zustand des Potenziellen — bei Bedarf lässt sich theoretisch darauf zugreifen, egal ob es wirklich schon da ist oder nicht. Dabei schneiden Begriffe das Abgründige und Unverständlich-Dunkle der Dinge häufig weg und drehen uns die helle Seite der Dinge zu, die wir verstehen können. Die Phänomenologie machte es sich daher zur Aufgabe, auf die Rückseite der Dinge zu gelangen und warb mit Rundgängen um das Ding. Doch was heißt es eigentlich, etwas zu verstehen? Was man versteht, das ist man in Teilen selbst, daher sei Wissen ein Bei-sich-selbst-Sein-im-Anderen“, so der Oberstaatshäuptling Hegel. Wo der menschliche Geist auch hinfährt, heraufklettert und sich hinabstürzt, überall muss er ein Selfie machen, sein Siegel dem Objekt seiner Erkenntnis aufprägen, sich selbst im Gegenstand bespiegeln. Philosophie sei, so der Dichter Novalis, der Trieb überall heimisch zu werden.“ Doch Novalis meinte das nicht im Sinne eines Eroberungsfeldzugs des Geistes, wie ihn Hegel in der Philosophie der Geschichte am Werk sah, sondern im Sinne einer Liebesbeziehung mit der Welt und einer Freundschaftsanfrage an das Fremde. Ob die Philosophie im aufklärerischen Sinne das Geheimnis des Lebens und des Daseins nach und nach auflösen sollte oder ob es nicht vielmehr ihre Aufgabe ist, das Geheimnis an letzter Stelle zu wahren, das hing davon ab, wie man die Philosophie verstand: als Königin der Wissenschaft oder als die große Erzählerin, die aus dem Buch der Welt vorliest und die Menschen das Staunen lehrt. Rätsel zu lösen, ist freilich eine hohe Kunst, doch den Grund ihrer Unlösbarkeit angeben, verriet in manchen Fällen die größere Weisheit.

Schopenhauer für seinen Teil erkannte in der oben beschriebenen Selbstsucht des erkennenden Lebewesens den Willen als das realste, das ens realissimum und setzte es an die freie Stelle, die das Ding an sich in Kants Erkenntnistheorie zurückgelassen hatte. Er betrieb damit freilich Metaphysik, Willensmetaphysik, denn er hatte ein Prinzip aufgestellt, das die gesamte Welt der Erscheinung, in seiner kantisch geprägten Terminologie die Welt als Vorstellung, apriorisch durchherrschte. Wohlgemerkt handelt es sich um ein Wirkungsprinzip, ein dynamisches Prinzip, das der Agilität aller Erscheinung Ausdruck verlieh. Jedes Bewusstsein, jede Lebensform von dem niedrigsten bis zum höchsten Grad der Bewusstheit sei nur eine singuläre Manifestation des Willens, er bestimme und regiere die Welt im Ganzen, nicht die hochangepriesene Vernunft der aufklärerischen und idealistischen Philosophie. Schopenhauer stellte die Weichen für eine Verkehrung des Subjekts und seiner Anlagen: Der Intellekt ist ein schwaches Echo des Willens, dem er unterworfen ist. Er ist nicht unabhängig und frei, sondern ist Funktion einer weit größeren und mächtigeren Instanz. Nicht die Vernunft, sondern das Lustprinzip nach Freud, der all das beerben sollte, ist Herr im eigenen Haus“. Der sich in aller lebendigen Kreatur aufbäumende Wille verdammte das Diesseits zu einem Jammertal, einem Vorhof der Hölle. Denn die mächtigen Wogen des Willens, weit mächtiger als jeder logische Schluss oder jedes Argument, werfen uns von einem Wunschobjekt zum nächsten, ohne dass wir je sonderlich in den Genuss einer Sache kämen. Wir sind eingespannt zwischen Verlangen und Erfüllung. Letztere gewährt uns höchstens eine kurze Verschnaufpause, bevor wir wieder in den Dienst des Willens genommen werden. Was der Wille im Ganzen will, ist gar nicht zu sagen, meint Schopenhauer, allenfalls sich selbst. Außer Frage steht hingegen, dass die menschliche Subjektivität ein totaler Missgriff der Natur war, weil sie zum fortwährenden Unglück aufgrund des Fatalismus des Willens- und Lustprinzips verdammt ist. Das Leben sei daher auch nur eine Verkettung größerer und kleinerer Unglücksfälle und Malheurs. Was empfahl dieser dunkle Prophet also? Bedingungslose Verneinung des Willens und des Daseins. Das sei der einzige Weg zum Seelenheil, das in durchaus stoischer Tradition zu den wesentlichen Anliegen dieser Philosophie gehörte. Askese, Enthaltung und Entsagung waren also für Schopenhauer der Ausweg. Neben diesem Weg fiel jedoch von zwei Erfahrungen des menschlichen Lebens Licht in dieses finstere, bruegelsche Bild des Daseins: vom Mitleid und von der Kunst. Mitleid mit der gequälten, sich ewig abmühenden Kreatur, Mitleid mit dem Schwachen und dem Scheiternden — solches Mitleid brach in seltenen Augenblicken die Vergeblichkeit und Aussichtslosigkeit des Daseins auf und gab die Vorschau einer sinnvollen Welt. Ebenso erlösend empfand Schopenhauer die ästhetische Erfahrung, denn in ihrem Wirkungsbereich werde der Wille besänftigt, der sonst wie ein wütender Sturm in uns tobt. Sie glättet die Wogen und öffnet den Käfig des principium individuationis, in das wir sonst gesperrt sind.

Nietzsche kam, sah, aber siegte er? Zuerst nahm er seinem Meister die beiden Krücken, an denen er sich aufrecht gehalten hatte. Er verteufelte das Mitleid als eine der verkleinernden Tugenden des Christentums und er wandte die Waffen seines Meisters, die psychologische Kunst der Entlarvung gegen ihn selbst, als er ihm vorrechnete, dass gerade der Wille bei seiner Deutung der ästhetischen Erfahrung im Spiel sei, wenn er sie als eine Instanz der Erlösung ersehne. Ob die Kunst wirklich aus der Immanenz des Daseins herausführe, das Seiende transzendiere, müsse man gerade mit Rückblick auf Schopenhauers Rede vom metaphysischen Bedürfnis“ beargwöhnen. Mutig, kühn, ja vielleicht tollkühn war dieser Angriff des Schülers auf den Meister. Doch was blieb vom Leben, wenn man ihm diese beiden Hoffnungslichter abschaltete? Überall, wo Schopenhauer sein granitenes Nein gesetzt und gesagt hatte, wollte Nietzsche laut Ja ausrufen. Das Leben im Ganzen sei zu bejahen, bzw. sei es des Menschen Aufgabe, dahin zu kommen, es bejahen zu können, i.e. so weit über sich selbst, seine Schwächen, seine Erziehung, seine Täuschungen und Komplexe hinauszuwachsen, dass er zu sich und seinem Schicksal Ja sagen könne. Amor fati war Nietzsches Losung, die in antithetischer Weise Gebrauch vom stoischen Gedankengut machte. Welche Konsequenzen aus diesen grundverschiedenen Haltungen flossen, konnte man an der Praxis ablesen: Ein Schopenhauerjünger würde das Glück für den Misserfolg des Unglücks deuten, für die absolute Ausnahme von der Regel, welche man mit dem Titel des gleichnamigen Films Die Beschissenheit der Dinge“ treffend typisieren könnte. Nietzsche hingegen, der zu allen Zuständen und Augenblicken des Daseins Ja sagen will, musste sich in jedes Gefühlsabenteuer stürzen, jeder Fiber seines Herzens lauschen und nachspüren, musste auch die großen Enttäuschungen, die ja keinem Leben, schon gar nicht einem großen Leben erspart bleiben, in seine innere Erfahrung allliebend aufnehmen. Er warf Schopenhauer einen Pessimismus der Schwäche“, den er mit einem Pessimismus der Stärke“ überwinden wollte, vor. Das Nein zum Leben war aus der Schwäche gesprochen, aus der Vernunft, die das Leben auf ein Mittelmaß emotional erträglicher Erfahrungen stutzen wollte, um ihm stoisch standzuhalten. Unausbleibliche Folge dieser strengen Vernunftzensur des Lebens war dessen Verarmung. Große Romanciers sollten im 19. und 20. Jahrhundert an ihren Romanfiguren exemplifizieren, wie sich eine solche Askese gegen sich selbst kehrt: Denn das Ausweichen vor den Untiefen des Lebens schützt uns zwar im ersten Blick vor den individuellen Melodramen unseres Daseins, rächend nimmt sich aber das Leben, was ihm gehört, indem es uns den Schmerz spüren lässt, nicht an ihm teilzunehmen. Eine Absage an das Leben rächt sich indirekt: wir verarmen und vertrocknen emotional, vereinsamen und verbittern im Abseits des Farbenspiels der Gefühle. Nietzsches kosmisches Ja konnte zwar wachstumssteigernd auf die Seele wirken, nahm ihr jedoch den Schutzschild und setzte sie dem Leben blank aus. Schopenhauers Nein schien dagegen eine Festung, ein Bollwerk zu bieten, in der alle Gegenstände dunkelgrau gemalt waren. Wer am Ende wohl Recht hat? Der Meister? Oder der Schüler?

Freud jedenfalls setzte Nietzsche fort und Nietzsche hatte damit ein weiteres Terrain auf seinen Denkrouten antizipiert, ohne es beim Namen zu nennen: das Unbewusste und den Traum, die rätselhafte Innenwelt des Menschen. Auch hier lag der Impuls zur Theorie in einer Hinwendung zur vermeintlich sinnlosen und alogischen Gefühls- und Triebnatur des Menschen und einer Abwendung von metaphysischen Wesensbestimmungen oder logischen Deduktionsverfahren. Was erstmals in den Blick gerückt werden sollte, war die Unverwechselbarkeit der Individualität, der höchst individuelle Leidensausdruck, der sich im Symptom zugleich ent- und verhüllt. Mit der Analyse des spezifischen seelischen Leids verband sich selbstredend die Frage nach der Möglichkeit von Heilung. So gelang ein neuer Gedanke in die verwissenschaftliche, moderne Philosophie, der sie an ihre antiken Anfänge erinnerte.

Freud war zunächst ein empirisch geschulter, analytischer Aufklärer, der sich als Arzt und Physiologe wie ein Höhlenforscher in die dunkelsten Bewusstseinsphänomene und Rätsel der Seele vorwagte. Mit einigem Recht konnte man ihn wie Gehlen einen Galilei der Fakteninnenwelt“ nennen, da er den kühnen Versuch unternahm, das, was sich bisher aller Vermessung entzogen hatte, nämlich das fluide und oszillierende Wesen der Seele wissenschaftlich zu erfassen. Seine Dreigliederung der psychischen Struktur in Über-Ich, Ich und Es glich einer Konjugation der Bewusstseinsebenen und brachte viele der nietzeanischen Gedankenspiele nach Hause. Während Nietzsche ratend und suggestiv die Wahrheit mit seinem rhetorischen Charme dazu verführte, sich vor ihm zu entkleiden, zielte Freud auf eine systematische und (natur)wissenschaftlich satisfaktionsfähige Theorie der Psyche. Zugleich war er der erste, der die gesamte Tradition der Triebphilosophie und der psychologischen Wendung, die Kierkegaard dem deutschen Idealismus gab, in ein einheitliches Programm, das zugleich eine Überarbeitung der klassischen Philosophie einschloss, überführte. Daher war er eben nicht bloß der erste und letzte Märchenonkel der Psychoanalyse und die weltberühmte Ikone der kulturellen Moderne, sondern auch ein philosophisch ernstzunehmender Denker: Er schrieb den Spruch des delphischen Orakels, das Γνῶθι σεαυτόν, das Erkenne Dich selbst“ der alten Griechen um in einen neuen Imperativ: Erzähle Dich selbst!“ Wahrheit, die laut Platon, dem Erzphilosophen, das genuine Anliegen der Philosophie sei, war hiermit neu bestimmt. Sie war nicht mehr in einem analytischen Verfahren, einem begrifflichen Durchkämmen der Erfahrung isoliert erfassbar, sondern der Mensch ging ihr zum praktischen Zwecke der Heilung in einer narrativen Spurensuche nach, indem er auf der Couch beim Therapeuten seine eigene Geschichte erzählte. Wahrheit war nun je für mich und setzt sich aus den Mosaikstücken meiner Biographie, meiner Erfahrungen und Beziehungen zusammen. Kierkegaard hatte die Philosophie auf diese Umstellung vorbereitet, als er den deutschen Idealismus als das kritisierte, was er unter allen Anstrengungen versuchte nicht zu sein: abstrakt. Was soll ich mit der absoluten Idee Hegels anfangen, wenn sie circa 324 Denkoperationen und dutzende dialektische Umschläge über mir im intelligiblen Himmel schwebt? Nur die Wahrheit und die Idee, die einen konkreten Berührungspunkt mit meinem Leben hat, kann überhaupt wahr für mich sein, so der junge Kierkegaard. Wahrheit war nun nicht mehr das Privileg einer hochgebildeten, denkenden Elite aus Professoren und Genien, sondern jedem stand der Weg zur Wahrheit seines Ichs zumindest offen. Diese aus Freuds Sicht eher nebensächliche philosophische Konsequenz seiner Bemühungen — tatsächlich war seine gesamte Philosophie eine Folgeerscheinung seiner Überlegungen zum Wesen der menschlichen Psyche — stand in der Linie von Nietzsches Lehre der Perspektivität allen Erlebens, die später von Interpreten auch als Perspektivismus etikettiert wurde. Das war nicht bloß eine Kneipenweisheit, sondern eine theoretische Weichenstellung, die nicht nur axiomatische Zusammenhänge wahr sein ließ, sondern die Existenz und ihre subjektiven Fakten (etwa: ich schäme mich“, ich wurde geschlagen“ etc.) zu wahrheitsfähigen Entitäten machte. Wie die Existenzphilosophie den Einzelnen zu ihrem bevorzugten Adressaten erkor und gewissermaßen eine Philosophie für Einzelgänger war, so sprach die Psychoanalyse das Individuum an. Nun würde der Schulphilosoph einwenden, dass es sich um eine subjektive Perspektive handele, die damit ihre Relevanz für das Große-Ganze, für die Sphäre des Allgemeinen, die Sphäre der aller Menschen zugänglichen Vernunft also, um die es dem Philosophen doch gehen müsse, einbüße. In der Praxis mochte das Votum der Psychoanalyse Wahrheit für jeden Einzelnen“ lauten, in der Theorie ging sie jedoch weit darüber hinaus: Der bis dahin unentdeckte Kontinent des Unbewussten wurde von Freud erforscht und erstmals hisste er die Flagge der Vernunft an diesem dunkelsten Ort unserer Seele. Dieser für die Philosophie folgenreiche Begriff besagt u.a., dass das Bewusstsein ein bloßes Oberflächenphänomen ist, das durchdrungen ist von den Wirkungen und Einflussnahmen des Es´, der Quelle unbewusster Triebregungen. Freud musste sich gegenüber seinen frühen Kritikern sogleich verteidigen, denn sie wandten ein, wie man denn erkenntnistheoretisch sinnvoll von einem Unbewussten sprechen könne, da es doch nun einmal unbewusst und nicht bewusst sei. Das alte Argument des Parmenides, dass alles Denkbare sein muss und alles Seiende denkbar und dass das Nichtsein eben in keiner Weise beschreibbar und denkbar sei, kam zur Anwendung. Freud zeigte aber anhand einiger Fallstudien und ganzer Forschungsareale wie des Traumes oder des Witzes, dass bestimmte Äußerungen der Psyche ohne eine Hinter- und Untergrundstruktur wie dem Unbewussten in keiner Weise erklärlich werden. Er zeigte damit, dass er als über die rein empirische Wissenschaft hinausgewachsener Denker keineswegs sein ursprüngliches Handwerkszeug des Beobachtens, Plausibilisierens, Experimentierens und Falsifizierens verlernt hatte. Was die Erkenntnis des Unbewussten zusätzlich erschwert, ist, dass wir seine Inputsignale ständig überdecken, brechen und filtern mit Rationalisierungen, weil sie unverdeckt und ausgelebt uns die Teilnahme an der Gesellschaft versperren würden. Unser Handeln, unsere Gedanken und Gefühle sind je die Resultate, die aus dem Kräftemessen der verschiedenen psychischen Instanzen entspringen. Diese selbst mussten erst einmal sortiert werden, und Freud störte es zeitlebens wenig, dass seine Resultate womöglich nicht die letztgültige Sortierung darstellen würden. Zwei freudsche Modelle, die beide denselben psychischen Apparat beschreiben sollten, überlagerten sich hierbei: Das spätere Strukturmodell, welches die Seele in Über-Ich, Ich und Es einteilt, sowie das topologische Modell, das sie unterteilt in das Unbewusste (niemals: das Unterbewusste oder Unterbewusstsein!), das Vorbewusste und das Bewusstsein. Im nicht immer klaren Geschiebe der Modelle bezieht das Ich selbst die Vermittlerposition zwischen Es und Über-Ich, der Libido und dem Gewissen, ein ständiger Balanceakt zwischen den Ansprüchen dieser gegnerischen Parteien ist seine lebenslange Aufgabe. Um aber überhaupt die Forderung beider Seiten klar auf den Tisch legen zu können, musste das Es aus dem Unbewussten über die Zwischenstation des Vorbewussten ins bewusste Zwischenreich des Ich heraufgeholt werden. Das klingt leichter gesagt, als verstanden. Ist doch aus Freuds Darlegungen zu den beiden dasselbe Territorium belegenden Modellen zu erschließen, dass auch das Ich unbewusste Anteile besitzt, zwar der Großteil des Über-Ichs unbewusst ist, es aber ebenso bewusste und vorbewusste Flecken hat. Jedenfalls war permanent Bewegung im intrapsychischen Spiel. Mit der Aufgabenstellung von Heilung ergab sich also die Frage, wie Jagd auf die Bewusstseinsinhalte zu machen sei, welche einem allzuoft durch die Finger glitten wie ein Seifenstück unter der Dusche.

Die Suche nach den verdeckten Anteilen des Ichs fand im Binnenraum der Sprache statt. Man begab sich auf die Suche, indem man anfing zu sprechen. Wobei einem — das war entscheidend — jemand zuhören musste. Das Seelenheil der Psychoanalyse lief über ein Programm der Selbstversprachlichung und priorisierte entschieden den Hörsinn gegenüber dem Sehsinn: Werde dir selbst zum Bild in deiner Versprachlichung und lockere die Triebzwänge, indem du sie qua Versprachlichung ins Bewusstsein transferierst, so ihre Devise. Denn an den Worten hängen die psychischen Inhalte, der Weg ins Unbewusste führt über die Sprache. Ausgesprochen und benannt verlieren die Triebe einen Teil ihrer blinden und zerstörerischen Macht. Was uns in der Sprache gegenständlich wird, kann nicht mehr vollkommen identisch mit uns sein, wir distanzieren uns durch einen sprachlichen Reflexionsprozess von den unbewussten Inhalten. Mit seiner Forderung, wo Es war, soll Ich werden“, schließt Freud in seinen Zielen an das Projekt der Aufklärung an, doch wenngleich er sich einen gewissen Vernunftglauben in seinen kulturtheoretischen Schriften immer wieder selbst andrehen wollte, war er im Rückblick auf die grundsätzliche und vortherapeutische Beschreibung des Menschen pessimistisch: Bevor nämlich das Ich in der Therapie Verantwortung für seine Triebe und Zwänge übernehmen kann, herrscht ja prinzipiell und allgemein das Es. Wir sind in erster Linie lust- und triebgesteuerte Lebewesen, die einen enormen psychischen Aufwand betreiben müssen, diese libidinösen Kräfte und Aggressionen zu bändigen. Niederkämpfen oder gänzlich in Schach halten konnten wir sie nie, sondern eben nur umleiten, sodass man sich das Ich als einen großen Kreisverkehr für alle anrauschenden Triebenergien vorstellen könnte.

Die archaische Vorwelt hinterlässt ihren Abdruck im Ich, indem sie es mit den Trieben des Es durchsetzt. Die noch so zivilisierten Teilnehmer moderner Gesellschaften stehen mit einem Fuß noch in der gesetzlosen Welt der Wilden. Wir sind also eine Bande maskierter Verbrecher, die sich als geladene Gäste einer High-society ausgeben. Und wie stark diese Urwelt der Psyche noch auf uns einwirkte, wollte Freud vor allen Dingen am mächtigsten Trieb des Menschen demonstrieren: dem Sexualtrieb. Das Unbewusste war also ein Tor zu unserer prähistorischen, archaischen Existenz, seine Inhalte waren laut Freud zeitlos, es öffnete die Zeitschranken und nivellierte den rationalen Fortschritt samt der Geschichte. Was so Eintritt erhielt, war vor allen Dingen eine Wirklichkeit: der Mythos. Und so war das Leittheorem Freuds, der Ödipuskomplex, dessen Überwindung uns allen aufgegeben ist, ein Mythem, das er in die Ontogenese der Psyche als zentralen Baustein einsetzte. Interpretiert und gedeutet als psychische Realität, als unbewusster Inhalt war dem Mythos im Lager der Psychoanalyse eine Enklave in der modernen, aufgeklärten Gesellschaft bereitet worden. Das konnte man ihr als Irrationalismus anschwärzen und tatsächlich exponierte sich die Psychoanalyse damit dem Rand des Rationalen. Wittgenstein bemerkte fasziniert, dass sie in ihren Deutungsmustern selbst an einer Art Mythos webe. Ihren Lesern begab sie zu bedenken, wie vernünftig der Mythos war und inwieweit er das verdunkelte Supplement der erleuchteten Ratio bildete. Freud war keineswegs ein Obskurant, der die Vernunft Jahrtausende zurückwerfen wollte, er erinnerte sie lediglich daran, dass sie sich nicht so weit vom Mythos emanzipiert hatte, wie sie es sich wünschte.

Wer sich jedenfalls länger mit Freud beschäftigte, musste wohl oder übel zur Kenntnis nehmen, dass wir als Kulturteilnehmer neurotisch veranlagt sind, was man im Philosophiestudium an den Kommilitonen und sich selbst gut beobachten konnte. Der harte Gegensatz von krank und gesund löste sich auf einer Skala von Abschwächungen der neurotischen Veranlagung auf. Bekloppt waren wir alle bis zu einem gewissen Grad und dieser Grad war zugleich der Schlüssel zu unserer Individualität, denn im Symptom ist die ganze Geschichte des individuellen Seelenlebens hochkomprimiert indiziert. Triebverzicht und Triebaufschub sind der notwendige Preis, den der zivilisierte Mensch für die Erhaltung der Gesellschaft, die ihn vor den Naturgewalten und Seinesgleichen schützt, entrichten müsste. Mit dieser Applikation des Bewusstseinsmodells auf die gesamtgesellschaftliche, zivilisationsgeschichtliche Ebene kam die Rede vom Unbehagen in der Kultur“ zustande, zugleich begab sich Freud hiermit auf schwankenden Boden, denn auf seiner Couch lag nun nicht länger ein Patient, sondern gleich die ganze Menschheit. Und es war fragwürdig, ob diese Extrapolation seiner Theorie der Psyche überhaupt tragfähig war. Schließlich könnte es ja auch gesellschaftliche Einrichtungen geben, die die Verdrängung überflüssig machen und dann müsste man vom Behagen in der Kultur“ sprechen.

Die große Frage blieb weiterhin die nach dem Lustprinzip. Die Vermehrung von Lust und die Vermeidung von Schmerz ist laut Freud das elementare Handlungsmotiv des Menschen. Das ist keine moralische Unterscheidung und wollte auch keine Basis für eine Moral sein; Die Beschreibung und Anerkennung aller menschlichen Affekte verbot geradezu jede Moralisierung alten Schlages. Um jeden Preis will der Mensch das Lustprinzip erfüllen, aber seine dauerhafte Realisierung erweist sich innerhalb der Gesellschaft als nahezu aussichtslos. Glück, die reale Befriedigung des Lustprinzips, sei die Ausnahme, sie bilde ein Kontrastphänomen“ zur Regel des Leidens, Ausharrens und Hinnehmens. Denn allein vom ökonomischen Standpunkt der psychischen Energieverteilung lässt sich ein positiver Zustand nicht dauerhaft aufrechterhalten. Und doch zielte die gesamte Psychoanalyse auf einen Zustand, in dem die Verdrängung so weit gelockert werden kann, dass die Lust, die ja laut Nietzsche Ewigkeit will –, / — tiefe, tiefe Ewigkeit!“, frei fließen kann. Sie wollte Freiheit von den Zwängen schaffen und den Patienten Lebensbejahung dank einer umfassenden Kenntnis der eigenen Schattenseiten ermöglichen. Zugleich dekretierte Freud, dass es das Reale, die ungefilterte, unverdrängte Sicht auf die Welt nicht geben könne. Das war ein philosophisch relevanter Punkt, der sein Echo in den Ahnenreihen hatte: Für Nietzsche gab es nur die Interpretation, für Hegel war alles zwischen Himmel und Erde vermittelt. Und Freud erkannte wiederholt die kontraintuitive Nähe und Verwandtschaft zwischen Es und Über-Ich. Das Über-Ich war die moralische Instanz, das Gewissen und stellte eine Verinnerlichung des Verbotes, der ödipalen Grundneigung nachzugehen, durch die Autorität des Vaters dar. Das Über-Ich war das Relikt des strengen und unbarmherzigen Vaters in uns. Es war in seinen bedingungslosen Forderungen dem Es verwandter als dem nach Ausgleich suchenden Ich. Es und Über-Ich konnten grausam und unerbittlich sein in ihren Matchansprüchen, sie wüteten im Bewusstsein wie Stürme. Man konnte mit Freud so weit gehen zu sagen, dass in der moralischen Selbstkasteiung, die vom Über-Ich ausgeht, das Es invertiert gegen das Ich auftritt. Verdrängte Aggression, die nicht nach außen geleitet werden kann, kehrt sich nach innen, gegen sich selbst und wird so zerstörerisch wie das Es. Mit dem Aufdecken solcher Zusammenhänge rührte Freud an einen prekären Punkt aufklärerischer und humangesinnter Selbstbeschreibung und vertiefte Nietzsches Einsicht, dass die Moral ein selbstzerstörerischer Zwang sei, den die Kultur an der Oberfläche als Ideal verklärt hatte. Sie wurden zu den Kronzeugen einer Selbstverschuldung der Vernunft, der fatalen Verstrickung in ihre Autonomie, dem, was unter dem Stichwort einer Dialektik der Aufklärung“ von Adorno und Horkheimer im kalifornischen Exil analysiert wurde.

Doch wie jede Theorie kannte auch die Psychoanalyse Lichtblicke: Eine abgeschlossene Psychoanalyse konnte den Patienten helfen, die Fixierung ihrer Triebe zu lockern und deren libidinöse Energien in andere Bahnen zu leiten, wo sie sich auf produktive Art zumindest in Teilen realisieren können. Und aus psychoanalytischer Sicht war ja nicht nur das grundsätzliche Missverhältnis des Triebaufschubs beschreibbar, sondern auch ein glimpfliches Aufeinandertreffen und Auseinandergehen der Krafteinheiten des Psychischen. So konnten beispielsweise die nach Freud benannten zwei Grundtriebe, Eros und Thanatos, im Sexualakt einvernehmlich ihre Realisierung finden. Und noch mehr sogar: Es ist gar nicht gesetzt und wahrscheinlich, dass sich der Mensch — Freud appelliert hier immer an die reine Intelligenz — mit einer Gesellschaft, die ihm permanente Unterdrückung seiner Triebe auferlegt, auf Dauer zufrieden geben müsse und an ihrer Aufrechterhaltung interessiert sei. Verdrängung als Triebschicksal“ der modernen, rationalen, abendländischen Gesellschaft ist keine ahistorische Determinante, sondern historisch variabel. Es gab Gesellschaften, die ihre Triebe weniger geißelten und sie und ihre Bräuche können wiederkehren. Im Liebesakt, um auf ihn zurückzukommen, konnten aggressive Tendenzen ohne Unterdrückung in Zärtlichkeiten umgegossen werden. Auf diesem Hintergrund formulierte Bruno in einer vulgären Rezeption Freuds ein praktisches Postulat: Anstatt jahrelang zum Therapeuten zu laufen, sollten wir uns gesundvögeln“. Dem hielt Jakob stets entgegen, dass man erst während der Therapie lernen könne, richtig zu vögeln.

Auch Marx wollte das (sinnliche) Glück im Diesseits den Menschen durch seine Philosophie der Praxis und Revolution ermöglichen. Ihm zufolge war das Krebsgeschwür der Menschheit der Kapitalismus, die ökonomischen Ungerechtigkeiten und die Warenwelt, die er hervorbrachte. Der Rationalisierungsprozess, der durch die philosophische Verbegrifflichung der Welt in der Neuzeit in Gang gesetzt wurde, war zugleich ein ökonomischer. Im Kapitalismus wurden die Dinge nicht nur zu numinosen Waren, sie wurden analog zur begrifflichen Deklination der Welt sämtlich gewogen, ausgepreist und durchnummeriert. Die Welt wurde zum Supermarkt. Die intellektuelle Zergliederung der kapitalistischen Wirtschaftsform war bekanntlich materialistisch gepolt und schlug auf ihrem Gipfel vom theoretischen Gedanken in die revolutionäre Tat um. Die Besitzverhältnisse, die Verteilung der Güter war durch alle historischen Szenarien laut Marx immer asymmetrisch und ungerecht gewesen, weil niemand ein Recht auf Besitzprivilegien geltend machen kann, ohne sich auf einen Klassenunterschied zu berufen, der durch die Natur des Menschen in keiner Weise gerechtfertigt sei. Es ging nun darum, die Welt zu verändern“ und sie nicht bloß länger zu interpretieren“. Das war eine Jahrhundertformel, die noch bis ins späte 20. Jahrhundert nachhallen sollte.

Und dann gab es ja noch die Philosophische Anthropologie! Als Tal des Menschen gehörte sie zu den Tälern des Lebens. Denn der Mensch war in ihrer Grundauffassung der letzte gemeinsame Nenner aller philosophischen Theoriebildung, ein deutlicheres Verständnis seiner Natur würde vielleicht Aufklärung darüber geben, warum er zum Himmel strebte und wie er als ewig Suchender einen Ausgleich zwischen seiner animalisch-triebgesteuerten und seiner geistigen Natur finden kann. Nietzsche gab das Stichwort, der Mensch sei das noch nicht festgestellte Tier“ und lieferte damit für Autoren wie Gehlen oder Plessner Pionierarbeit. Die philosophische Klärung der menschlichen Natur könnte die Basis sein, um eine angemessene Form der Vergesellschaftung und der politischen Verhältnisse definieren zu können. Jakob sprach hierbei wie ein darwinistischer Zoowärter von der artgerechten Haltung“ des Menschen. Um veritablen Gebrauch von diesem Attribut zu machen, musste man den Menschen in seiner Natürlichkeit erstmal erkennen: Die gab es aber laut Plessners erstem Anthropologischen Gesetz gar nicht, denn Menschsein bedeutet immer schon in einem vermittelten Verhältnis zur eigenen Natur stehen, sich immer schon zu sich verhalten, sich selbst Objekt und Subjekt zu sein — in anderen Worten: Die Natürlichkeit (das Wesen) des Menschen ist seine Unnatürlichkeit, seine Natur ist stets gebrochen. Doch warum das? Gab es nicht seit Menschengedenken die Vorstellung und Rede von einem paradiesischen Urzustand, in dem Mensch und Natur eins waren und von dem man sich durch Erschaffung der Kultur und der Zivilisation fortschrittweise entfernt hatte? Plessners Antwort war eine gesamte Theorie des Menschen. Wir sind ein Mischwesen, das in sich selbst vermischt ist: Wir sind ein Leib und wir haben einen Leib, so die zentrale These der plessnerschen Anthropologie, die auf seinem Leittheorem der exzentrischen Positionalität“ des Menschen basiert: Weil wir uns immer zu uns selbst ins Verhältnis setzen können, uns selber über die Schulter schauen, zuschauen und reflexiv einholen können, spaltet sich unser Erleben immer in die unmittelbare, leibliche Erfahrung der Dinge und ihre kommentierende Vermittlung durch das Bewusstsein, das wir von ihnen haben. Wir haben unseren Leib, auf den wir uns verschieden besinnen und beziehen können und wir sind dieser Leib, wir können ja schlecht aus ihm heraus und wer sollte er sonst sein, wenn nicht wir? Kein Erlebnis ist daher absolut in dem Sinne, dass es uns einseitig auf Körper- oder Geistesebene ansprechen würde, es bricht sich im Menschen und der Mensch lebt aus dem Bruch seiner Wesenshälften, dem Körper und dem Geist. Nur sind diese nicht getrennt — das war an Descartes adressiert –, sondern in einer Art Bewusstseinsparadoxie verflochten: Im Bruch mit der Einheit liegt die Einheit unseres Denkens, Fühlens und Erlebens, der Bruch wird als solcher also zum wesentlichen Erlebnis menschlicher Existenz. Wir werden von unserem unmittelbaren Erleben nicht absorbiert, weil wir zugleich in unsere Mitte und in unsere Peripherie gesetzt sind: Wir sind der Fußballspieler auf dem Rasen und der Fan in der Südkurve. Exzentrisch nennt Plessner diesen Standpunkt, der im Grunde keiner ist, weshalb er an einer Stelle seines Hauptwerks auch schreibt, der Mensch sei ins Nichts gestellt, was ungemein existenzialistisch anmutete. Um einen Ausgleich mit seiner antagonistischen Natur zu finden, muss der Mensch die Kultur zu Hilfe nehmen, sie ist der einzige Ausweg aus der Divergenz seiner Wesenshälften. Über den Umweg der Kultur kann er die gebrochene Einheit seiner selbst ansatzweise wiederherstellen. Das heißt aber, dass wir konstitutiv heimatlos“ sind und von Natur aus künstlich. Von der Entfernung oder gar Entfremdung von einem anfänglichen Idealzustand konnte also nicht die Rede sein, da der Mensch sich natürlicherweise selbst befremdet. Dass wir die Perspektive auf uns als einen fernen Bekannten, als einen anonymen Agenten, nicht abschütteln konnten, zeigte sich laut Plessner noch an anderen Stellen: Wir sind die einzigen Lebewesen, die sich verlieren können, wenn wir uns der exzentrischen Positionalität zu sehr überlassen, ohne auf einen Ausgleich mit unseren Polen hinzuwirken. Zugleich sind wir das einzige Lebewesen, das sich suchen und finden, das sich selber in einem höheren Sinne haben kann. Waren wir einmal fündig geworden im Spiegellabyrinth unserer Selbsterscheinungen, dann zeigte sich allerdings, dass das Gefundene uns in den Händen wie Sand zerrinnt. Die menschliche Existenz kann nirgendwo Halt machen, denn die rastlose Verwirklichung ihrer Möglichkeit ist laut Plessner ihr modus vivendi. Der Geist, so das dritte Anthropologische Grundgesetz, ist auf das Zukünftige gerichtet, er begnügt sich nie mit dem, was er schon ist und schon hat, sondern er hat sich und ist er selbst, indem er sich fortwährend realisiert. Das konvergiert mit Herders unheimlich modernem Diktum, wir seien noch nie Menschen gewesen. Wenn das Sein des Menschen ein werdendes ist, das immerzu in die Zukunft strebt, dann ist uns lebenslang aufgegeben, unser Leben zu leben. Die menschliche Existenz muss permanent vollzogen werden, um überhaupt zu sein. Das menschliche Sein ist also ein Auf-dem-Weg-Sein und es kann, ja es muss gegeben seiner exzentrischen Position sich selbst zur Frage werden. Denn die anthropologische Paradoxie, dass wir jederzeit in unser Hier-und-Jetzt gestellt sind, es aber zugleich als einen möglichen Raumzeitpunkt unter anderen wahrnehmen und betrachten können, dass wir also in und außer, hinter, über und unter uns sind, verleiht uns die Freiheit oder verdammt uns mit Sartre gesprochen vielmehr zur Freiheit, jederzeit auch ganz anders zu können. Unsere Handlungen sind nicht wie bei den Tieren durch Instinkte determiniert und damit in ihrer Wirklichkeit gebunden, sondern sie sind kontingent, d.h. sie könnten auch andere sein, sie sind mögliche neben anderen. Wir waren, um eine weitere Paradoxie aus Plessners Anthropologie abzuleiten, zu jedem Zeitpunkt unseres Lebens jemand und niemand. Diesem merkwürdigen Umstand unserer Existenz wollte Plessner Rechnung tragen, indem er eine normative Theorie der Gesellschaft entwickelte, in der wir nicht ultimativ auf eine Rolle festgeschrieben werden, sondern die die Pluralität unserer Wesens- und Ausdrucksmöglichkeiten würdigt: Ein Rollentheater, in dem wir uns die Fluidität unseres Ichs zu eigen machen, indem wir ihm eine Vielzahl an Masken zur alltäglichen Verfügung stellten. Philosophie wurde also Sozialphilosophie und wanderte in Teilen aus in die Tochterdisziplin, die Soziologie.

Die Kritische Theorie, die unter der Leitung Horkheimers, mit ihrer intellektuellen Gallionsfigur Adorno und mit ihrem geheimniskrämerischen Genius Benjamin zu Beginn des 20. Jahrhunderts Gestalt annahm, ist das paradigmatische Beispiel. In ihr konvergierten eine Reihe von Denktraditionen: Freuds Analyse der individuellen Psyche sollte gesamtgesellschaftlich zur Anwendung kommen und in Beziehung gebracht werden mit den ersten Soziologien, die von deren Gründungsvätern entworfen worden waren, namentlich Durkheim, Simmel, Weber. Zugleich wollte man den Marxismus für das 20. Jahrhundert schrittfähig machen und in eine Theorie der Gesellschaft integrieren, die nicht bloß sagt, was der Fall ist, sondern mittels Kritik falsches, ideologisch verstelltes Bewusstsein von einem aufgeklärten Bewusstsein trennscharf unterscheidet. Georg Lukács hatte in seiner Marx-Lektüre mit dem Theorem der Verdinglichung den Schlüssel zu einer Renaissance des Entfremdungsbegriffs an die Hand gegeben. Die Warenwelt hinterlässt ihren Abdruck in den Beziehungen, den Gedanken und dem Bewusstsein der Menschen, die sie bewohnen. Das Tal des Lebens hatte also ein weiteres Epitheton, einen weiteren Ort hinzugewonnen: Es war die Frage nach dem Sozialen, nach den Massen und der Eigendynamik sozialer, komplexer Gefüge. Auf der Karte des nietzscheanischen Denkens, das sich stark einem Aristokratismus verschrieb, gab es außer einigen polemischen Bemerkungen zur modernen Vergesellschaftung und ihren negativen Folgen nicht viele Wege, die in das Tal des Sozialen führten. Um es zu erreichen und die reine Immanenzebene der Gesellschaft zu erschließen, musste man das Auf und Ab, welches noch den Takt für Nietzsches Denken vorgab, hinter sich lassen.

Nietzsche stapfte dessen ungeachtet bald weiter und wir hefteten uns an seine Fersen. Ein weiteres Mal führte er uns in eines der Täler des Lebens. Reflektierte man einmal, in welcher Weise der Mensch auf die Welt primär Bezug nimmt, so landeten wir schnurstracks im Tal der Sprache. Die Sprache war nämlich der Zugang des Menschen zur Welt und zu seinen Mitmenschen, sie unterschied ihn, das nach Aristoteles benannte zoon logon echon, von den Tieren, der organischen und atomaren Materie, vielleicht auch von Gott. Die Gedanken waren gar nicht, bevor sie nicht einen Abdruck in der Sprache hinterlassen hatten und erst eine sprachliche Erfassung der Dinge, konnte überhaupt Licht ins sprachlose Nichts bringen. Für die Philosophie war aber noch wesentlicher der Gedanke, der wiederum von Nietzsche ins Spiel gebracht wurde, nämlich dass die Sprache ein arbiträres Zeichensystem ist, in der Dinge durch Worte gekennzeichnet werden, ohne, dass man sich auf eine intrinsische Verwandtschaft zwischen Zeichen und Bezeichnetem berufen könnte. Und noch weiter: Die Sprache entwickelt ein wahres Eigenleben. Sie macht Vorurteile nicht erst möglich, sondern enthält sie ganz notwendig, seien sie moralischer oder epistemischer Natur. Ihre grammatikalischen Strukturen, etwa die Subjekt-Zentrierung der indogermanischen Syntax präformieren das Denken, weil sich das Denken in und an ihm erst entwickelt. Jeder Geist, auch der philosophische, ist zu seiner Mitteilung auf den (gesprochenen oder geschriebenen) Buchstaben angewiesen. Wenn aber der Geist nur in und mit der Sprache Gestalt annimmt und es sich dabei nicht um ein einseitiges Verhältnis der Einflussnahme, sondern ein wechselseitiges handelt, dann ist der Geist sprachgebunden, d.h. er ist den Bedingungen der Sprache unterworfen. Beim Bau und bei der posthumen Betrachtung großer, architektonisch komplexer Theoriegebäude, etwa der Kritik der reinen Vernunft“, musste man nun also feststellen, dass das Baumaterial porös war. Wieder einmal stellte die Philosophie fest, dass sie auf unsicherem, schwimmendem Boden stand und dass ihre Theorien und Begriffe gleichsam der Versuch waren, Pfeiler in einen sumpfigen, ungewissen Grund zu schlagen. Sie hatte geglaubt, sich der Sprache als eines Werkzeuges bedienen zu können, das keiner besonderen Anleitung oder Prüfung im Vorhinein bedürfe. Nun musste sie feststellen, dass nicht sie die Sprache beherrschte, sondern die Sprache in ihrem Denken eigenhändig ans Werk ging. Die Sprache spricht“, formulierte der späte Heidegger lakonisch und traf damit die Kernidee des linguistic turn, der von dieser Eigenlogik der Sprache sich Rechenschaft ablegen wollte und die gesamte philosophische Aufmerksamkeit auf sie lenkte. Hundert Jahre vorher hatte Novalis in einem einseitigen philosophischen Experiment mit dem Titel Monolog“ diese Einsicht schon übertrumpft, als er vielleicht etwas sensationslustig und ironisch erklärte, die Sprache spreche am liebsten mit sich selbst. Außer Frage stand jedenfalls, dass die Sprache eben nicht jene Zentralperspektive einer universellen Vernunft auf die Dinge, die jedem vernünftigen Lebewesen zugänglich ist, schafft, sondern vielmehr eine mögliche Perspektive. Was folgte daraus? Sollte man eine logische Analyse der Sprache betreiben, um sie von ihren Tücken und Wirrnissen zu säubern? Wenn ja, gleich die Gegenfrage: Wie sollen wir uns die Dinge näherbringen, wenn nicht mit den Mitteln der Sprache? Ist die Kritik der Verstelltheit der Sprache nicht auch nur in und mit der Sprache möglich? So unbrauchbar und tückisch konnte sie also nicht sein und es ist ja nicht so, als hätten wir Alternativen und als könnten wir sie leichten Herzens entbehren und vollständig auf andere Modi Kommunikation umstellen. Wobei es tatsächlich andere Zugänge zur Welt gibt: singen, tanzen, gehen, malen, fühlen. Und es gab philosophisch hochreflektierte Dichter, die diese Erfahrungsbereiche als das Andere der Vernunft einholen wollten, etwa Hölderlin, der in seinem Gedicht Friedensfeier“ einen wunderlichen Ausklang des Gebrauchs der Vernunft in der künstlerischen Tätigkeit, ja im Kunst- und Tonwerden des Subjekts in Aussicht stellte. Statt lebenslang zu diskutieren, zu differenzieren und präzisieren, im Dauerlauf der rationalen Rede sich abzumühen, war uns laut Hölderlin auch die Möglichkeit gegeben, uns in einem Gesang aufzulösen. Der Auftritt solcher Ausnahmenaturen konnte die Philosophie in echte Verlegenheit bringen. Schließlich hatte sie sich auf ihrem geistigen Höhepunkt — und was war der deutsche Idealismus anderes als ein geistiges Gelage — zur Expertin des Absoluten erklärt. Ihr ging es seit ihren Anfängen um das Ganze. Sollte sich aber nun zeigen, dass ein Dichter mit Versen und begnadetem Sprachgefühl dem Wesen der Dinge und dem Geheimnis des Daseins auf die Spur kommen konnte und die letzten Fragen nicht rational verhandelte, sondern sie mit der Stimme des Herzens leise und weise besprach, stand ihr Selbstverständnis und ihre Autorität in Frage. Hatte die Vernunft, auf die die Philosophie seit der europäischen Aufklärung setzte, ein Patent auf die Weisheit? War die Weisheit wirklich das Privileg der Denker oder gehörte sie nicht in Teilen ebenso dem Dichter? War reine Vernunft göttlich oder nicht eher durch sich selbst korrumpiert? Hier scheiden sich die Geister bis heute und die Aufspaltung der Philosophie in die zwei Lager der analytischen und der kontinentalen Philosophie ist ein trauriges Zeugnis für diesen folgenschweren Streit: Auf der einen Seite gab es immer Philosophen, die die Philosophie trennscharf sowohl von der Naturwissenschaft als auch von der Kunst und Literatur unterscheiden wollten, um ihr einen abgezirkelten Gegenstandsbereich zu sichern. Dem standen die schriftstellerisch begabten Philosophen gegenüber: Für sie waren philosophische Texte von literarischen Texten nicht eindeutig zu unterscheiden, allein schon weil sie beide sprachliche Gebilde sind, weil sich außerdem kein Mensch aus seinem Leben gänzlich herausreflektieren kann und weil jedes Philosophieren, jedes Denken ab einer bestimmten Größenordnung unweigerlich Form und Stil annimmt. Nietzsche stand selbstverständlich als der Stilist und Rhetor, der er war, auf der Seite der letzteren Partei. Geleitet von der Einsicht, dass unsere sprachliche Erfassung der Welt per se rhetorischen Charakter hat, dass die Bezeichnung eines Dinges immer ein Sprung, eine willkürliche Benennung des Substantiellen über das Akzidens des Objekts darstellt, wollte Nietzsche die verfemte Rhetorik zurück in die farblosen Hörsäle der Philosophie führen. Weil die Benennung der Dinge kein rationaler Vorgang ist, sondern Konvention, Willkür, Wunsch, Phantasie, Träumerei und am Ende vor allen Dingen künstlerische Experimentierfreude die Quellen sind, aus denen die Wörter aufsteigen, können wir die Rhetorik nicht der philosophischen Akademie verweisen. Aus welchen mal mehr, mal weniger nachvollziehbaren Gründen auch immer es manchen erstrebenswert erschien, die philosophische Begriffswelt in ein fixiertes Vokabular eindeutiger Bedeutungen zu überführen, also gleichsam das, was philosophisch aussagbar sein sollte, juristisch zu kodifizieren; dieser cartesianische Traum war letztlich nicht realisierbar. Wenn die Beziehung von Wort und Ding erkenntnistheoretisch gesehen ein Übertragungsphänomen ist, dann hat Sprache als Form den Charakter einer rhetorischen Trope. Sprache, so Nietzsche in einem seiner frühsten Texte, ist formal nichts anderes als ein Arsenal von Verschiebungsmanövern, Sprunghandlungen und Übertragungen. Hiermit nahm er Blumenbergs Rehabilitierung der Rhetorik als anthropologisches Grundverhältnis in Teilen vorweg. Ein Gedicht oder ein Roman konnten im Hinblick auf diese Zugeständnisse an die Rhetorik redlicher und philosophischer sein als eine Vorlesung über Logik. Wie auch immer man sich zu dieser Streitfrage positionierte, die Stellung zur Rhetorik war ein Merkmal zur Charakterisierung jeder Philosophie: Sage mir, wie du es mit der Rhetorik hältst und ich werde Dir sagen, welche Art von Philosophie du verfichst.

In der Philosophie der Aufklärung war die Rhetorik schwer in Verruf geraten, sie wurde von Kant höchstpersönlich als eine Kunst zur Verunglimpfung der Sachen durch beabsichtigte Doppeldeutigkeit in der Sprache herabgesetzt. Anders sah es schon bei Hegel aus, dessen Kauderwelsch definitiv ein hochentwickeltes Formbewusstsein aufwies. Er schrieb eine rhetorisch reich getränkte Prosa und reflektierte in seinen Vorlesungen über die Ästhetik, dass etwa unserem Wort Begriff noch die sinnlich manuelle Spur des Greifens eingelagert sei. Dass die Sprache in diesem Beispiel aus der Praxis entsprungen ist und der Begriff des Begriffes einen Sprung von der sinnlichen Erfahrung ins abstrakte Denken darstellt, ist keineswegs unwesentlich für das Denken, das mit Begriffen hantiert. Sie bilden schließlich das Leitmedium der Philosophie. Ihre Abstraktion konnte ein solches Ausmaß an Reduktion einschließen, dass sie das Besondere mit dem Ausdruck des Allgemeinen nicht bloß verkannten, sondern gar beleidigten, so der junge Hegel in seinem Zeitungsartikel Wer denkt abstrakt?“. Unter einen Gattungsbegriff subsumiert zu werden, bedeutet für einen Stein wie für ein Tier, erst recht für ein modernes Individuum eine Verletzung ihrer Individualität und Würde. Die Transzendentalphilosophie, ja alle bisherige Philosophie (bis aus wenige Ausnahmen wie Humboldt, Herder, Hamann und Nietzsche) krankte an einer Sprachvergessenheit.

Unter diesem Aspekt stellte sich die Philosophie als eine ständige Selbstproblematisierung ihres modus operandi dar. Von Hegel über Nietzsche bis Heidegger und Adorno war sie damit beschäftigt, die Insuffizienz des Begriffs auszubessern, um der unmittelbaren Erfahrung, dem unmittelbaren, einzigartigen Moment gerecht zu werden. Vor diesem reflexiven Hintergrund entstand Mitte des 18. Jahrhunderts eine weitere philosophische Disziplin: die Ästhetik und Kunstphilosophie. Sie war erfüllt von der Erfahrung der Grobheit und Eckigkeit begrifflicher Erkenntnis und stellte die Frage, ob es auch eine sinnliche Erkenntnis geben könne, die ohne begriffliche Mittel auskommt. Die Schönheit schien hierfür die Kardinalszeugin zu sein. Wenn das von Descartes aufgestellte Reinheitsgebot wissenschaftlicher Erkenntnis ¬– clara et distincta“ — bei der Erkenntnis des Schönen nicht befriedigt werden kann, heißt das nicht, dass die schönen Künste erkenntnistheoretisch kein Daseinsrecht hätten. Die romantische Hermeneutik hatte der jungen Wissenschaft des Schönen den Impuls gegeben, auch dem nachzuforschen, was nicht in das Hoheitsgebiet des Begriffs fällt und war darin zu einer Keimzelle der Begriffskritik geworden. Begriffe waren Spielverderber, sie drehten ihren Objekten den Saft ab, sie nahmen ihnen den Wind aus den Segeln und legten sie trocken, um sie dann so lange zu zerkleinern bis sie sich in einen Haufen aus erkannten Bruchstücken auflösten, in dem das, was sie waren, nämlich eine Einheit und ein Ganzes, nicht mehr zu erkennen war. Gerade diese Aufgabe stellte aber die moderne Kunst an den Betrachter: Ihre Werke als Einheiten und Ganzheiten zu verstehen, die im Bruch mit sich selbst, sich ihrer Einheit wieder annähern, daher den Begriff von sich fernhalten, um sich ihm im Gegenzug anzunähern. Wie manche nachher zu Recht kritisch anmerkten, spiegelte sich die idealistische Philosophie dem Narziss gleich in der Einheit des Kunstwerks. Die klassische, deutsche Philosophie hatte für den Gedanken an ein umgreifendes philosophisches System der Wirklichkeit an der Kunst Inspiration gewonnen und ihre größten Entwürfe waren bisweilen wie Gedankenkunstwerke anzusehen.

Kunst und Philosophie zeichnete zudem eine Wahlverwandtschaft aus, weil sie die freieste Sicht auf die Welt, den Menschen und die Dinge einte. Sie standen nicht im Dienst einer Disziplin, einem Regelkanon oder einem Methodenbegriff, den sie nicht von sich selbst hätten. Sie waren nutzlos bis in alle Ewigkeit und darin eben zeitloser und vollkommener als alles Nützliche, das in der Moderne ja seine Herrschaft über die Menschen zusehends ausbaute. Und man konnte noch weiter gehen: Wenn man der Kunst eine Erkenntnisfähigkeit zubilligte, dann musste man auch zugeben, dass sie gewisse Aspekte sogar sensibler und feiner nachzeichnen konnte als die sekundäre Wirklichkeitsbeschreibung, an der sich die Philosophie begrifflich abarbeitete. Sie konnte den individuellen, einzigartigen Ausdruck nachzittern lassen auf dem Papier, der Leinwand, im Akkord. Sie konnte die Verworrenheit und Verwicklung eines gelebten Lebens bis ins pikante, sinnliche Detail beschreiben. Sie konnte Zeugnis davon ablegen, was es heißt in eine Zeit, eine Gesellschaft, eine Kultur hineingeboren zu werden. Sie konnte den Wahnsinn und das Leid menschlichen Daseins viel genauer und konkreter erfassen. Was das wissenschaftliche Bewusstsein ihr amusikalisch als Verschwommenheit der Perspektive vorrechnen würde, ist ihr Trumpf: Weil sie sich nicht um die Klarheit und Definiertheit ihrer Darstellung sorgt, sondern um ein unbefangenes Sehen der Dinge in einem Licht, wie es nur die Natur spendet, bleibt sie hinter der Philosophie zurück und ist zugleich über sie hinaus. Sie sieht in philosophischer Terminologie gesprochen die Dinge in ihrer Besonderheit, weil sie sich allgemeine Bestimmungen spart. Und zum Besonderen, Konkreten wollte ja auch die Philosophie und so konnte sie einen echten Neid gegenüber ihrer jüngeren Schwester verspüren, ja vielleicht sogar ein Begehren so zu sein wie sie. Doch das hieße Selbstverrat, von den eigenen Zielen abkommen. Sie hatte sich auf den Begriff vereidigt und musste an ihm festhalten. Wo sie sich über ihn hinauswagte, dort nur zur Verankerung des Konkreten im Allgemeinen, zum Begründen des Individuellen im Allgemeinen, des Subjektiven im Objektiven. Die Ästhetik forderte von der Philosophie gleichsam die Umkehrung der Abstraktionsrichtung. Sie war für die Philosophie ein Traum- und Schwellenland, in der sie lustvoll ihre eigene Auflösung ausprobieren konnte. Der Essayismus in der Folge Montaignes war ein solches Auflösungsphänomen, in dem die Philosophie in ein offenes Feld zwischen Kunst und Wissenschaft driftete. All das konnte man leicht als romantischen Infantilismus der Philosophie abtun, doch ein Gedanke widersetzte sich dieser Abfertigung: Der Geist, dem es um die letzten Dinge zu tun ist, findet seine Vollendung vielleicht nicht in sich, sondern erfährt von dem, was er selbst nicht ist, einen Anklang seiner Vollendung.

Der junge Nietzsche war ganz beseelt von dem Wunder einer ungebändigten, spätromantisch-süßlich dahinfließenden Musik eines Richard Wagner und erklärte als dessen Jünger in seinem ersten Buch, dass nur {…} als ästhetisches Phänomen das Dasein und die Welt ewig gerechtfertigt“ sei. Sein Frühwerk konnte man als ein weiteres Tal des Lebens ansehen: als das der Kunst. Er hob sie in den Rang einer ultimativen Richterin über Gut und Böse, über Gerecht und Ungerecht, weil sie nämlich jenseits dieser normativen Dualismen steht. Für Nietzsche war jedes Urteil, jede Erkenntnis nicht mehr und nicht weniger als ein Geschmacksurteil. Und es war die lebendige Kunst, nicht die stolze und altehrwürdige Philosophie, die dem Leben einen Sinn verleihen konnte. Aus solchen radikalen Umwertungen speiste sich ein Ästhetizismus, der erst nach Nietzsches sogenannter Umnachtung in der deutschen und französischen Dichtkunst und Malerei Gestalt annahm, der diese Philosophie beerbte und ihr in der Kunst viele Kinder schenkte. Es stand außer Frage, dass er für zwei junge, im 21. Jahrhundert prinzipiell desorientierte Geisteswissenschaftler ein verlockendes Sinnangebot war. Ob sich das Los modernen Lebens, das Georg Lukács als transzendentale Obdachlosigkeit“ betitelt hatte, in dieser Weise bewältigen ließ, blieb dahingestellt. Die Schönheit im eigenen Leben und über alle seine trivialen Angelegenheiten regieren lassen, ihr Altäre errichten und ihr huldigen, indem man kulturelles Kapital geschickt in Szene setzte und sich selbst zu einem wandelnden Kunstwerk ästhetisierte — ja, das waren freilich lustvolle und maliziöse Unterfangungen. Die Schönheit konnte man mit der unverbesserlichen Diktion eines Oscar Wildes der Wahrheit angleichen und die Wahrheit genüsslich eine Schönheit werden lassen. Bedarf der wahre Gedanke nicht auch der schönen Form, weil er von sich aus dorthin strebt und war das Schöne nicht die sinnliche Spur des Guten in ihm? Nietzsches Form des Philosophierens, seine schriftstellerisch anmutende Aphoristik legte davon Zeugnis ab: Die Wahrheit war ein Phänomen, keine abstrakte Formel, vielmehr ein weiser, schöner Spruch wie man ihn bei den Alten nachlesen konnte. Bewusst kehrte sich Nietzsche gegen die moderne Form des Philosophierens und fiel in seiner Aphoristik Jahrtausende hinter den modernen Geist zurück in die römische Antike, wenn er sich nicht gar zu den Vorsokratikern gesellen wollte. Unzeitgemäß nannte er seine Position und wer sie als schöngeistige Rhetorik diskreditierte, sah nicht scharf genug hin: Der Aphorismus ist das Bruchstück, das aus dem Ganzen herausgerissen wurde und damit auf es zurückweist; die Scherbe lässt Form und Umfang des zersprungenen Gefäßes erahnen. Das Ganze ist aber die aus den Fugen geratene Welt“, die Nietzsche als Chaos begriff, das sich als solches der Erkenntnis, der Wahrnehmung und der Beschreibung entzog. Die Erfassung des Ganzen innerhalb eines in sich abgeschlossenen Systems erklärte er für philosophischen Größenwahn. Stattdessen galt es, dieser ausufernden Welt einen adäquaten Ausdruck zu verleihen. Nietzsches Lösung war hier wie so oft künstlerisch: Die zahllosen, in Länge und Kürze stark variierenden Aphorismen simulierten ein Meer aus Stimmen, das sich beim Umbruch der alten, bürgerlichen Welt in die Hochmoderne am Horizont dunkel anbahnte. In Form von Rede und Gegenrede, Pathos und Parodie, Tonwechsel und Intensivierung der Tonlage, Gegeninitiative, Einbettung und anderen Relationen webten sie an einem bunten Faden, der das Innere der Werke durchzog. Mehrstimmigkeit hieß Mehrdeutigkeit, Plädoyer für Relativismus und Offenheit des Ganzen, weil sich das Ganze niemals zur anschaubaren Einheit schließt, weil das seine Vergegenständlichung voraussetzten würde. Mehrstimmigkeit hieß auch Gespräch, Kommunikation: jeder und alles kommt zu Wort und der Geist ist rastlos auf dem Weg zu sich. Nietzsches Gesamtwerk war eine prädigitale Form des Internets, in der alle Empfänger zugleich Sender sind, das erste Fußballstadium, in dem jeder Zuschauer auch Kommentator ist.

Dass der Ästhetizismus und der gesamte dandyhafte Lifestyle, der ihn begleitete und der im Existenzialismus eine modische Konjunktur hatte, eine Sackgasse war, an deren Ende ein Thron für das narzisstische Ich aufgestellt war, musste jedem bald klar werden. Und wem es nicht bald klar wurde, der verlor sich eben in ihm und musste das mit einer Erkaltung seiner Lebensform, mit einem Anstieg seiner Lebensferne bezahlen. Konnte das noch im Sinne Nietzsches sein? Nicht jedenfalls des Nietzsches, der seine Leser zum großen Ja aufrief. Das Leben zu bejahen, war ja weder für den Ästheten mit seinen minimalistischen Distinktionen eine Option, denn für ihn heißt Leben vulgäres, stumpfes, vollkommen undifferenziertes Vor-sich-hin-Vegetieren noch für den Begriffsarbeiter, der sich immerzu aus der sinnlichen Welt und dem unmittelbaren Erleben mittels abstrakter Negationen herausreflektiert. War man also entweder Ästhet oder Denker? Die Lösung dieses Dilemmas war simpel: Tagsüber nahm man es in der Bibliothek mit der akademischen Philosophie auf, las seriöse Suhrkamp Bände oder Festschriften für irgendwelche emeritierten Professoren, die auf Seite eins in Frontalansicht meistens mit überdimensionaler DDR-Brille lächelnd ins Bild schauten und abends konnte man sich der ästhetischen Privatlektüre von Trakl, Stefan George oder Gottfried Benn widmen oder einfach ins Kino gehen. So arbeitete man an dem geistigen, kulturellen Patchwork, aus dem in der Postmoderne ja alles und jeder bestand.

Antithesen

Aber mit einer solchen Lebensführung und solchen Interessen waren wir von vorgestern. Schließlich herrschten in der Philosophie und auch in der Literatur längst ganz andere Töne. Spätestens die Bekanntschaft mit der analytischen Schule zog die der griechischen Kalokagathia nachempfundene Verschwisterung von Wahrheit und Schönheit, die in Nietzsches Aphorismen noch so harmonisch widerklang, in ernsthafte Zweifel. Die Wahrheit war hier noch bestenfalls, mit dem Genius der analytischen Schule gesprochen, keine Eigenschaften von Sätzen, in der Regel aber zu einem abgemagerten, mittellosen Axiom verkümmert. Wittgenstein schneiderte der nackten Wahrheit einfarbige Kleider, von denen eines schlichter war als das andere und wurde zum Trendsetter einer rhetorischen Mode des Minimalismus. Dass für die Griechen Schönheit ein Argument war, wie Nietzsche noch reinen Gewissens ins Feld führte, interessierte hier niemanden mehr. Die Philosophie wollte wieder einmal eine seriöse Wissenschaft werden; Wissenschaft des Wahren. Und die Philosophen der analytischen Schule, die meistens aus Amerika oder dem angelsächsischen Raum stammten, waren knochentrockene Sezierkünstler, die unendlich bodenständig den Tatsachen des Geistes ins Auge schauten. Von der Abenteuerlichkeit eines nietzscheanischen Denkens war keine Spur, stattdessen wurde die Philosophie zu einem Informationsschalter für Lösungen theoretischer Probleme umfunktioniert. Zu jedem einzelnen Problem, jeder erdenklichen Frage konnte man ein Ticket mit Antwortmöglichkeiten ziehen. Diese Antworten waren ausschließlich auf dieses hochspezifische Problem zugeschnitten. In einem von den Naturwissenschaften entlehnten methodischen Verfahren näherte sich die analytische Philosophie ihren Gegenständen. Die Einheit ihres Verfahrens war ein Dreischritt von These, Argument und Konklusion, mit der sie glaubte, den Puls des Wahren simulieren und universell anwenden zu können. Ihre Argumente lagen so dicht aneinander, ihre Argumentation war so lückenlos, ihr begriffliches Werkzeug so scharf und desinfiziert, dass sie einen luftleeren Begründungsraum der Logik erschuf, eine Art logisches Labor. Es war nicht mehr die dünne Bergluft der Transzendentalphilosophie, sondern eine gefilterte Laborluft, die einen umgab. Der einzige laborfremde Keim, der eindringen konnte, indem er durch eine der wenigen Lücken oder Enden der Argumentketten schlüpfte, war der Widerspruch. Er ist das Ärgernis des analytischen Philosophen und möglicherweise der einzige Befund, der dafür spricht, dass er sich überhaupt mit der Welt auseinandersetzt. Es hatte einmal Philosophen von Weltrang gegeben, die den Widerspruch zum Motor des Denkens und zum Wesen des Seins aller Dinge, wie sie dem Menschen erscheinen, erklärt hatten. Das hatte man im Labor längst vergessen oder widerlegt. Je mehr Widersprüche eine Theorie vermeiden kann, desto besser ihre Kohärenz und Konsistenz. Halte Deine Theorie so gut es geht frei von Widersprüchen und nutze den Widerspruch, wenn überhaupt, zur Widerlegung anderer, gegensinniger Theorien und du hast das Wahrheitsspiel gewonnen. Wohl kaum zufällig für ihre erfolgreiche Verbreitung an allen europäischen Lehrstühlen war diese Denkform vollkommen kompatibel mit der Produktionsweise wissenschaftlichen Wissens, das über Papers und Sammelbände publiziert wurde. Statt Bücher zu schreiben, produzierten die Analytiker massenweise Papers, die sich gegenseitig bestätigten, widerlegten, kritisierten und differenzierten. Sie bauten an einer Forschungslandschaft, in der alles nebeneinander archiviert und mit Ismen“ etikettiert wurde. Nie wurden Wahrheiten in einem solchen Ton des understatements verkündet. Eine heftige Ernüchterung des abendländischen Geistes vollzog sich, die einherging mit einer radikalen Absage an alle Heilsversprechungen, pathetische Formeln und weltanschauliche Rattenschwänze. Die Philosophie ist eine Wissenschaft neben anderen, nicht mehr und nicht weniger, so wurde deklariert. Wissenschaften zeichnen sich aber dadurch aus, dass sie einen definierten, endlichen Gegenstandsbereich haben, in dem sie forschen. Aus ihren wohldefinierten Gegenstandsbereichen und Konzepten schmiedeten die Analytiker eine mächtige Waffe. Indem sie nämlich die Pforten der Philosophie zur Rhetorik, zur Poesie, zur Kunst, zur Geschichte und leider auch zur Theologie verschlossen, warfen sie alle Philosophen, deren Denken sich in der Schnittmenge solcher Disziplinen bewegte, per definitionem aus dem Privatclub der wissenschaftlichen Denker. Solches Verhalten war bei jeder Schulbildung zu beobachten, kühner und anmaßender war hingegen die Behauptung, die oft mit diesem Verfahren einherging, dass nämlich dieser oder jener Denker gar keiner sei, weil nämlich das, was er schreibe, denke und analysiere nicht in den Gegenstandsbereich der Philosophie falle. Um eine Vermittlung der verhärteten Gegensätze zu leisten, müsste man sich offensichtlich an erster Stelle darüber verständigen, was man denn als philosophisch, was als nicht-philosophisch und mit welchen Gründen auffassen dürfe. Der diplomatische Geist der Peripatetiker, die die Wahrheit immer zwischen den Fronten ansiedeln, wäre gefragt. Jedenfalls war diese Einfügung in den akademischen Betrieb eine überlebenswichtige Maßnahme der Philosophie gegen die drohende Bedeutungslosigkeit und ihre einzige Möglichkeit, nicht auf dem Misthaufen der Geschichte zu landen, aber sie schloss eine Ignoranz großflächiger Traditionsräume des abendländischen Denkens ein.

Der artverwandte logische Positivismus war eine Nulldiät für jeden Ästheten. Die Welt sollte erklärbar werden in einem Geflecht atomarer Aussagen, die sich zu einem logischen Ganzen zusammenschließen. Indem man die gesamte Metaphysik unter der Flagge des linguistic turn einem sprachlichen Reinigungsprogramm unterwarf, das vor allen Dingen mit den Codes wahr/unwahr, falsch/richtig oder sinnvoll/sinnlos das Denken und genauer die Sprache von unlogischen Überresten, sinnwidrigen Aussagen und poetischen Sätzen säuberte, hoffte man allgemeine und zeitlose Wahrheiten poliert präsentieren zu können. Als Nachfahren Platons träumten logische Positivisten und ihre Pioniere wie Russell oder Frege davon, in der Philosophie Formeln und nahezu zahlenmäßige Axiome formulieren zu können, die an die Reinheit und zeitlose Gültigkeit mathematischer Formeln heranreichten. Das war ihnen der einzige Weg zur Wissenschaft.

Wem stundenlanges Grübeln über Argumentstrukturen und die Frage, ob sich aus den Prämissen eines Arguments mit Notwendigkeit dessen Konklusion ergibt, auf den Zeiger gingen, der hatte dankenswerterweise auch in der Philosophie nach 1945 Alternativen. Zwar wurden diese Alternativen nur selten und dürftig seitens der Universität angeboten, aber es gab sie und wenn man bereit war, bis zu einem gewissen Grad Autodidakt zu werden, konnte man ihnen folgen. Da waren zum Beispiel die Poststrukturalisten: eine Bande intellektueller Scharlatane, bei denen man nie ganz wusste, ob sie einen gerade belehrten oder zum Narren hielten oder zeigten, dass solche Dinge gar nicht so weit voneinander entfernt sind. Eine ihrer Quellen war zweifellos ein vereinseitigter Nietzsche. Seine sprachtheoretischen Überlegungen ließen sie sich von dem Begründer des französischen Strukturalismus, dem französischen Linguisten De Saussure, formalisiert vorkauen und entwickelten eine Zeichentheorie, die Bedeutung als ein Epiphänomen semiotischer, vorausgehender Setzungen banalisierte und damit den konstruktivistischen Charakter menschlicher Welterzeugung durch Sprache offenlegte. Jeder Sinn ist Ausfluss eines historischen Bestimmungsprozesses, in dem Setzungen gemacht werden darüber, was sinnvoll ist und was nicht. Gegensätze werden geprägt und schreiben sich dem kulturellen Gedächtnis ein, etwa der Gegensatz von Leben und Tod, haben jedoch keinen substantiellen Rückhalt in der Sache. Die Dekonstruktion Derridas ist bemüht, solche Gegensätze nicht als substantielle An-sich-Bestimmungen stehen zu lassen, sondern im Hinweis auf ihr Gewordensein die Möglichkeit ihres Anderswerdens offen zu halten. Unser Denken ist von normativen Begriffsdualismen durchzogen, unser Deuten von Phänomenen und Texten zielt — bei Derrida werden wie bei Nietzsche und später bei Blumenberg die meisten Gegenstände zu lesbaren Texten — auf ihre eine, wahre Bedeutung. Alle Gegensätze sind aber gewordene, müssen als eine semantische Schicht, eine Schrift, die in unser Denken, Vorstellen und Wahrnehmen eingeritzt wird, als eine — und nun kommt die Lieblingsmetapher der Poststrukturalisten — Spur angesehen werden. Dass 2500 Jahre abendländischen Denkens semantisch-begriffliche Spuren hinterlassen haben, erschien plausibel. Die Dekonstruktion war ein Lektüreverfahren, eine Kunst des Lesens, die solche Spuren in der Nährlösung eines Denkens nachwies. Aber es blieb nicht bei einer chemischen Analyse der molekularen, begrifflichen Struktur eines Denkens. Mit dem Nachweis solcher Spuren wollte Derrida den Beweis führen, dass die Bedeutung der Leitbegriffe eines Denkens außerhalb des Kontextes, in dem sie zustande kommt, gar nicht existiert. Damit ging es erneut den höchsten und ehernen Idealen der Philosophie an den Kragen: Wahrheit sei nichts anderes als das Echophänomen eines begrifflichen Koordinatensystems, wie es etwa das sokratische Denken ausgebildet hat, sie ist eben nicht jene zeitlose, in allen Kontexten tragfähige Substanz, als die sie von so vielen Philosophen adressiert wurde.

Wenn Derrida dann jedoch Sätze brachte wie die Spur ist die Spur einer Spur“, war man sich unsicher, ob man hier gerade komplett verarscht werden sollte oder ob diesem Sophismus eine tiefere Einsicht innewohnte, die man bloß noch nicht erfasst hatte. Diese Verweisungsspiele führten zu einer Relativierung und Dynamisierung aller Bedeutungsinhalte; ein hermeneutisches Verfahren, das Derrida auch als Dissemination bezeichnete. Hierbei werden die Bedeutungen von Wörtern dem etymologischen Sinn nach innerhalb eines unendlichen Verweisungszusammenhangs gestreut: Denn alle Bedeutung kommt nur in Verweisung und Abgrenzung auf andere Bedeutungen und ebenso durch Abgrenzung anderer Bedeutung usw. zustande, durch sich selbst oder in ihrem Bezug auf die Realität standen die Wörter ziemlich blank und hilflos da, nur durch interne Streitigkeiten konnten sie überhaupt Relief gewinnen. Etwas ist nur dann etwas, wenn es sich von anderem unterscheidet, das war noch platonische Ontologie, aber die Unterscheidung ist kein einmaliger Akt, sondern ein unaufhörlicher Prozess, in dem ständig neue Bedeutungen generiert werden und schon die Wiederholung des Gleichen ist hinreichend für eine Verschiebung der Bedeutung qua Differenz. Bedeutung ist nicht in einem ersten, unveränderlichen Signifikat fundiert und damit gesichert, sondern sie ist ein Differenzprodukt. Die Sprache als Ganze gesehen wäre mit einem großen Fluss zu vergleichen, in dessen Strömungen und Strudeln fortwährend andere Bedeutungsschichten an die Oberfläche eines Wortes gespült werden. Es gab kein Konzept, keinen Begriff und keinen Wert, der fest in einer unbezweifelbaren Bodenschicht verankert wäre, vielmehr zeigt die Dekonstruktion, dass alles in Relation steht, dass alles Glied einer unendlichen Kette von Bedeutungen ist, die von vielen weiteren Bedeutungsketten durchkreuzt werden, sodass sich nach ihrer bildlichen Vorstellung ein Rhizom, ein pilzartiges Wurzelgeflecht hinter jeder Bedeutung verbirgt. Das hatte Nietzsche zumindest in Teilen antizipiert, wenn er schrieb, dass nur das streng definierbar sei, was keine Geschichte hat“, um in der Folge in vielen seiner Aphorismen die vergessene Geschichte einer philosophischen Idee, eines abstrakten Wertes oder einer Norm als eine systematische Umwertung“ zu rekonstruieren. Die konsequente Durchführung seiner Einsichten zu einer wissenschaftlichen Sprachtheorie hatte er allerdings nicht geleistet. Was man bei Nietzsche schon absehen konnte, war ein radikaler Relativismus auf dem Feld alter Gewissheiten, dessen Freisetzungspotenzial intellektueller Möglichkeiten er feierte, vor dessen destruktiven Konsequenzen er jedoch ernsthaft warnte: Heftige Orientierungslosigkeit und die Zerstörung aller Gewissheiten, die in eine Bodenlosigkeit führt, einen Abgrund der Vernunft. Bürgerliche Schriftsteller und Kenner nahmen diese Warnungen ernst und rieten gleich zu Beginn der im 20. Jahrhundert einsetzenden Nietzsche Rezeption von einer allzu identifikatorischen Lektüre ab. Wer ihm ganz folge, schrieb Thomas Mann, sei verloren. Bei Derrida sah man, wovor da eigentlich schon gewarnt worden war: Er hatte dieses Programm soweit radikalisiert, dass die Anwendung seiner dekonstruktivistischen Lektüreform von philosophischen Klassikern nicht viel übrig ließ außer ein paar Strichen: wenigen Zügen einer Physiognomie metaphysischer Denkweisen.

Mit Derrida als Schlusslicht einer Ahnenreihe großer Denker wie Kant, Hegel, Schelling, Schopenhauer, Nietzsche und Heidegger (so ungefähr die Aufstellung des deutschen Fußballteams im Spiel gegen die Griechen bei der Philosophen-WM von Monty Python) erwies sich uns Philosophie als fortschreitende Destruktion und Kritik der Metaphysik. Der Nachfolger warf seinem Vorgänger vor, dass er trotz seiner radikalen Kritik an der Möglichkeit von Metaphysik doch an einer neuen Metaphysik gebaut habe. Jede Kritik sei bewusst oder unbewusst die Schaffung einer Grundlage, auf der eine Apologetik metaphysischer Denkweisen unter neuen Bedingungen fortgesetzt werden kann. Im Falle Heideggers ging das so weit, dass der späte Heidegger den frühen Heidegger aus Sein und Zeit“ metaphysischen Denkens bezichtigte. Übrigens nahm sich auch Heidegger ein Wort Nietzsches sehr zu Herzen: Wir müssen wieder Nachbarn der nächsten Dinge werden!“ Heidegger saß in seiner Hütte im Schwarzwald und wendete die Dinge und Werkzeuge des täglichen Gebrauchs nachdenklich in seinen Händen und begann damit, eine umfassende Nahaufnahme der menschlichen Existenz und das heißt eine phänomenologische Ausbuchstabierung der Selbstverständlichkeiten ihrer alltäglichen Handlungen aufs Papier zu bringen, in denen immer schon ein konkretes Verständnis davon enthalten ist, was es mit der Welt, in der wir leben und Dinge gebrauchen, auf sich hat. Er versetzte die philosophische Gedankenarbeit, die seit Jahrhunderten die Tendenz hatte, von den Vorfindlichkeiten des Daseins, dem Stift in der Hand, den Schuhen an den Füßen zu abstrahieren, zurück in den unmittelbaren Vollzug des Daseins. Dasein ist ein bestimmtes In-der-Welt-Sein“, dem es wie Heidegger gerne wiederholte, in seinem Sein um sein Sein geht“. Mit dem Ernstmachen solcher Banalitäten betrat Heidegger philosophisches Neuland. Indem er die einfachsten und allernächsten Sachverhalte unter die Lupe nahm, fand er einen vollkommen anderen und bisher unbetretenen Weg zur Welt. Er zeigte, wie und auf wie viele Weisen wir, ohne uns dessen sonderlich bewusst zu sein, in unserem Handeln, Vorstellen und Besorgen immer schon mit der Welt verwachsen sind. Wollte man seine Philosophie wieder als ein Tal des Lebens auffassen, das auf Nietzsches Routen lag, so wäre sein Ortsname Tal der Existenz“. Denn die Existenz verstanden als das Wesen des Daseins ist die Grundeinheit, auf der Heidegger aufbaut und Existenz der Begriff, mit dem er sich aus den Höhen der Metaphysik zu entfernen gedachte. Hermeneutische Analyse der menschlichen Existenz — das war eine Neubestimmung der Philosophie.

Zur Beantwortung der numinosen Frage nach dem Sein, die uns als Frage gar nicht mehr zu Bewusstsein komme, weil wir derart von der Allgegenwart des Seienden absorbiert seien, dass wir kaum noch nachvollziehen könnten, wie das Sein überhaupt thematisch oder fragwürdig werden könne, hielt sich Heidegger vorerst an das Seiende und versucht in ihm Auskunft zu gewinnen über das vermisste Sein. Heidegger führte ein vierhundert Seiten langes Interview mit dem Seienden und hangelte sich entlang der W-Fragen zum Sein dieses Seienden: Wer ist dieses Seiende? Das Dasein. Wo ist dieses Dasein? Es ist räumlich situiert und in ihm liegt eine wesenhafte Tendenz auf Nähe“. Worumwillen ist es? Um seiner selbst willen, d.i. es sorgt sich um seine Angelegenheiten usw. Das Seiende als Phänomenon zeigt sich für das Dasein an sich als zuhanden. Heidegger will es gerade in dem Modus beschreiben, von dem sich die Philosophie bisher zu schade war, Notiz zu nehmen: Im Dunkel des gelebten Augenblicks. Die Dinge, die Wege, die Zeichen, die Brücken, die Häuser und Dächer, die Türen und Klingeln sie sind alle vorweg funktional bestimmt. Sie stehen uns zu Diensten und sind alle im höheren Sinne Werkzeuge oder in Heideggers eigenwilliger Terminologie Zeug“. Sie sind intentional aufgeladen und stehen in einem Zweck-Mittel-Zusammenhang, ein Zusammenhang, in dem uns die Welt zunächst und vor aller theoretischen Betrachtung als das erscheint, in dem unser Handeln und Denken eingebettet ist. Kantianer und alle Arten von Transzendentalphilosophen wollen hier protestieren. Denn es gibt doch unabhängig davon, ob ich Dinge für meine Zwecke einsetze und verwende, die Dinge an und für sich. Das nennt Heidegger das Vorhandene, das aber so gut wie nie sich zeigt, weil wir eben in einer Welt leben, die nahezu lückenlos in Zweckzusammenhängen aufgeht. Was sich zeigt, ist das Zuhandene und daher ist das Zuhandene die An-sich-Bestimmung des Seienden, in Heideggers Sprache seine ontologische Bestimmung. Nicht aus der Hinterwelt, einer metaphysischen Welt, die etymologisch verstanden hinter der Erscheinung steht und diese konstituiert, sollte die Welt erschlossen werden, sondern aus der Vorder- und Nahwelt der Dinge. Ding an sich und Erscheinung waren also nicht hoffnungslos voneinander getrennt, sondern das Ding an sich erscheint eben. So einfach ist das. Das war Husserlsches Erbe und Husserl war es auch, der Heidegger auf die Spur der Nahwelt des Bewusstseins setzte. Plessner hatte geschrieben, dass Husserls Philosophie gesellschaftlich gesehen nur eine konsequente Folgeerscheinung sei, sofern sie die erste bürokratische Philosophie in einem bürokratischen Zeitalter darstelle. Heideggers Auslotung einer vollständig funktionalisierten Dingwelt, in der sich das Dasein im 20. Jahrhundert wiederfindet, ist dem verwandt. Bei ihm nahm die Beschreibung des Innenraums des Daseins aberwitzige Formen an, man wurde hier beispielsweise darüber in Kenntnis gesetzt, dass das Dasein immer schon einen räumlichen Bezug zur Welt habe und wisse, dass oben die Decke des Zimmers, unten hingegen der Boden sei. Was man im Philosophiestudium nicht alles lernt! Alle philosophischen Schulen verkündeten zu Beginn des 20. Jahrhunderts den Anbruch des nachmetaphysischen und antimetaphysischen Denkens und doch hatten fast alle einen Berührungspunkt mit metaphysischen Ideen. Was es also mit dem Himmel auf sich hat, was die Welt im Innersten zusammenhält, von diesen Fragen konnten die noch so aufgeklärten Philosophen nie ganz die Finger lassen und zwar nicht nur, weil ihre Ignoranz zur Konsequenz hätte, dass man sich als Philosoph der eigenen Tätigkeit beraubt hätte, sondern weil sich diese Fragen, wie Kant in seiner berühmten Eingangspassage zur Kritik der reinen Vernunft“ meinte, aus dem Grund der Vernunft heraus stellen.

In den Meditationen zu Metaphysik“, dem Herzstück des philosophischen Hauptwerks Adornos, erwog dieser in gebetsartig vorgestoßenen Gedankengängen die Möglichkeit einer Metaphysik nach der großen Katastrophe der Menschheitsgeschichte, nach Ausschwitz. Für ihn stand außer Frage, dass die großen Fragen, — ob wir aus gutem Grund auf diesen Planeten geworfen wurden, ob es einen letzten Grund aller Dinge gibt, ob es ein Leben nach dem Tod, eine unsterbliche Liebe, ja eine Auferstehung des Fleisches gibt — unbeantwortet geblieben sind. Ihre Dringlichkeit hatten sie nicht etwa eingebüßt, weil sie durch wissenschaftlichen Fortschritt überkommen waren, sondern weil die Menschheit durch Gewöhnung an den status quo der Gesellschaft solche Fragen, die über den status quo hinausreichten, vergessen hatten. Einzig das selbstvergessene, reflexionslose und übersättigte Leben schob die Fragen ins irrelevante Abseits. Jeder Funke zur Transzendierung des Wirklichen erlosch im immergleichen Tun und Lassen der vergesellschafteten Menschen. Vielleicht ist das Zögern am Ende eines langen Arbeitstages, das Zögern vor den letzten Routinehandlungen, mit denen man den Tag beschließt, das letzte Relikt für die Wirklichkeit der Möglichkeit einer anderen Gesellschaft. Aber das Leid der Menschen hat trotz der Entfachung der ökonomischen Produktion nicht aufgehört: Hunger, Durst, Kriege, Gewalt, Schändung, Vertreibung und Verfolgung sind nicht abgeschlossene Kapitel der Menschheitsgeschichte, sie geschehen täglich und darum bleibt das Denken am Ball. Im Denken wird laut Adorno das Leiden beredt, das Leiden an der Welt lässt ihre Erkenntnis zur Aufgabe werden und ruft die Philosophie in ihr Amt bis zum heutigen Tag.

Endstation Unendlichkeit

Die letzte Station in unserem endlichen Studium war die Begegnung mit den amoralischen Kartographen der Geschichte der Philosophie: Foucault, Blumenberg und Sloterdijk. Der Ton ihrer philosophischen Erzählungen war gemäßigter, weil er von vornherein desillusionierter war. Sloterdijk trat in die Fußstapfen Nietzsches, indem er sich zu einem Dramaturgen philosophischer (Theater)Stücke aus der Geschichte der Philosophie machte und sie im metaphorischen Kalkül kühner Sprachspiele zu luziden Zeitdiagnosen inszenierte. Foucault analysierte die Entstehung moralischer und wissenschaftlicher Ordnungen und Kodifizierungen, wie sie sich im Laufe der Zivilisation in westlichen Gesellschaften entwickelt hatten. Er schrieb eine Evolutionstheorie der gesellschaftlichen Ordnungen und der Machtstrukturen, die diese Ordnungen erhalten. Und Blumenberg breitete riesige Landkarten historischer Geisteslandschaften vor seinen Lesern aus und erzählte beflissen ausufernde Begriffs- und Ideengeschichten, die sich über Jahrtausende erstreckten und unzählige Seiten seiner meist humorvollen Bildungswälzer füllten. Neben einer äußerst kenntnis- und materialreichen Theorie des Mythos arbeitete sich Blumenberg im Grunde an der Widerlegung eines Satzes aus dem Vorwort von Wittgensteins Tractatus“ ab. Wittgenstein verkündete dort resolut die Quintessenz seines Werkes: was sich überhaupt sagen läßt, läßt sich klar sagen; und wovon man nicht reden kann, darüber muss man schweigen.“ Das im unverblümten Stil vorgetragene Diktum lässt keinen Zweifel daran, dass hier jemand das Projekt einer Grenzziehung der Vernunft, wie Kant es entworfen hatte, im Medium der Sprache einlösen will. Blumenbergs Metaphorologie kann als Gegenentwurf zu diesem Purismus verstanden werden, denn sie nimmt erstens zu Kenntnis, dass über sehr vieles, über das es nach Wittgenstein einfach zu schweigen gelte, auch und gerade in der Philosophie gesprochen wird und dass es Sprechweisen gibt, die ein Überschreiten der von Wittgenstein markierten Sprach- und Vernunftgrenzen fürs erste ermöglichen; nämlich metaphorisches Sprechen. Mit Metaphern können wir über die Grenzen des klar Sagbaren hinausschießen, allerdings stets mit der ernüchternden Ungewissheit darüber, ob der spekulative Gehalt des metaphorischen Ausdrucks durch irgendeinen realen Gehalt gedeckt ist. Jedenfalls war der alte Schulstreit, der sich zu Beginn der modernen deutschen Philosophie zwischen Kantianern und Hegelianern entzündet hatte, was es nämlich mit Grenzen auf sich hat, modifiziert wiedergekehrt. Traumwandlerisch segeln wir in Metaphern über den Grenzposten des wittgensteinschen Sprechverbots oder wir halten uns mit Wittgenstein nüchtern in den Grenzen möglicher sinnvoller Versprachlichung und hüllen uns jenseits der Grenzen weise in ein pyrrhonisches Schweigen. Schweigen war eine philosophische Tugend und wer zuletzt schweigt, schweigt am besten; nur ganz ohne Reden kam die Philosophie eben nicht aus. Der Akt des Schweigens war ein Versuch Wittgensteins, die Philosophie in einem performativen Akt zu beschließen. Das war schließlich auch ein Anliegen aller großen Philosophen: mit der Philosophie fertig werden, ihr ein Ende vorzeichnen. Aber ging das überhaupt? Glich das nicht eher einem Verlust, einem Selbstmord, wenn man voraussetzte, dass der Geist nur lebendig ist in und mit der Sprache? Schieben wir diese Frage bis zum Ende dieser Chronik auf.

Mit Denkern wie Blumenberg, Foucault und Sloterdijk fing die Philosophie nochmal an, sich selbst zu reflektieren, ihre Geschichte gegen den Strich zu lesen, das nun jedoch ohne den vormals unvermeidlichen Gestus, aus der Philosophiegeschichte erneut die eine neue verbindliche Philosophie gewinnen zu wollen. Besonders Blumenberg hatte ein Talent dafür, die Denkprobleme und den philosophischen Grundriss einer Epoche in ihren Fragen abzupausen. Auf das Fragen verstand sich die Philosophie seit ihrer ersten Stunde und Nietzsche lehrte bereits die gezielte und präzise Setzung von Fragezeichen, ja sah in seiner stilisierten Orthografie das Fragezeichen als ein ungemein nützliches, philosophisches Werkzeug der Schriftsprache an. Spätestens bei Heidegger und Adorno begann eine wahre Kunst der Frage und Gegenfrage Gestalt anzunehmen, die Blumenberg als Museumsführer für philosophische Rundgänge durch die Geschichte von Begriffen, Ideen und Fragen zur Meisterschaft bringen sollte. Fragen kommen nicht aus dem Nichts, verlieren ihre Unschuld spätestens bei ihrer Aussprache und sie enthalten in der Regel eine ordentliche Portion Antworten, die sie glauben, bereits zu wissen. Ihre Gezieltheit, ihre spezifische Stellung gibt Aufschluss über ihre Herkunft, den geschichtlichen, gesellschaftlichen und psychologischen Zusammenhang, dem sie entspringen. Philosophen konnten dann den gesamten Horizont einer Frage erschließen, den Vor- und den Rückraum sowie die seitlichen Abhänge einer Frage ermessen, ja Angaben über die Höhen- und Wetterlage derjenigen machen, die so fragen, sie konnten den ideologischen Schleier einer Frage lüften und sie damit in Luft auflösen, nur eine Sache konnten oder wollten sie in der Folge meist nicht: Antwort auf sie geben. Sie verzichteten auf eine handfeste Antwort, weil sie zeigen wollten, dass die Fragen falsch gestellt sind oder zumindest so gestellt sind, dass nur eine bestimmte Art von Antworten den Fragenden befriedigt und damit überhaupt zulässig ist. Wenn aber die erwartete Art von Antworten schon Teil des Problems ist, muss einerseits das Fragen erst erlernt werden, andererseits wird der Prozess des Antwortens gegenüber dem Finden der Antwort entschieden aufgewertet: Von der Analyse der Frage geht die Philosophie über zu ihrer synthetischen Funktion: Wenn sie selber fragt, dann ist die Frage dasjenige Verkehrsmittel im Denken, das an den Rand des Wissens treibt und ein schwaches Licht in den Bereich des Nichtwissens wirft. So tritt die Metaphysik seit Kants Tagen, seitdem ihr qua Kritik die dogmatische Verfahrensart zur Unmöglichkeit wurde, in Gestalt von Fragen auf. Sie sind unveräußerlich für das Denken, denn mittels ihrer kommt man schrittweise ins Denken, erzeugt, indem man Antworten formuliert, neue Fragen, die Antworten erfordern, sodass die ersten Inhalte eines Denkens abgeworfen werden und das Denken anfängt. Mit dem Fragen tastet das Denken, wird im Abstrakten wieder sinnlich. Und das war schließlich die größte und letzte Aufgabe: Selbstdenken, eigens in den Vollzug der denkerischen Praxis zu gelangen, ohne sich durch das Verketten von Zitaten über den Abgrund des Unwissens, in dem die Fragen blühen, hinwegzuhelfen. Spätestens hier bekamen wir eine Ahnung davon, wie gefährlich Denken eigentlich sein kann, wie viel Mut es dem Denkenden abverlangt, will er eigene Schritte im Denken tun und welche enormen intellektuellen Kräfte einerseits und geistige Agilität andererseits es brauchte, um eine Theorie gegen mögliche Angriffe des Zweifels standfest zu machen. Nietzsche hatte viel mit dem Zweifel abgehangen und versucht sich mit ihm anzufreunden, aber auch als seine Leser wollten wir es uns bei ihm nicht allzu gemütlich machen. Sich durch einen radikalen Zweifel vor der philosophischen Arbeit zu drücken, hatte Nietzsche explizit verboten. Der Zweifel konnte im besten Fall zu einer Quelle der Frage werden, denn ohne Fragen kamen wir im Denken keine Meile weit.

Indem wir uns Nietzsche als Redakteur der modernen Philosophie und ihrer Zukunft erwählt hatten und seinen Schlag- und Stichworten — sein Mit-dem-Hammer-Philosophieren hatte ja immer etwas Schlagendes und Stechendes — nachgingen, stand uns in jeder Philosophie des 20. Jahrhunderts mindestens eine Tür offen. Nietzsche hatte gleichsam die Becken geformt, in die sich die Wasser kommender Philosophien ergießen sollten. Und doch musste man sich von ihm emanzipieren, um das zu werden, was er von einem forderte: ein Individuum. Er stieß einen regelrecht von sich, sowie die meisten Intellektuellen nicht viel bis gar nichts von ihren Parteigängern halten. Bleiben oder es sich bei ihm einrichten, konnte man also nicht, denn der Modus seines Denkens war ein rastloses Weiterdenken und Weitergehen. Kam man irgendwo an? Wurde man heimisch oder sollte man als Nietzscheaner nicht eine Art Nomadenleben führen, durch die verschiedenen Täler des Lebens ziehen und überall eine Prise Skepsis streuen? War am Ende gerade dieser modus vivendi artgerecht und ebenso Vorbild für einen gesunden modus cogitandi? Fest stand, dass die heroischen Selbstüberbietungsgesten der Moderne passé waren, wir waren nun im Flachland angekommen. Wir hatten schon gesehen, dass in einer solchen postmetaphysischen, säkularisierten Kultur das philosophische Fragen längst nicht ausgedient hat. Es gab viele Schatten, die Gott nach seinem Tod, den Nietzsche als dramatisches Sprachereignis am Eingang der Moderne inszeniert hatte, zurückgelassen hatte: die Totalität der sozialen Beziehungen, kurz die Gesellschaft, die Kunst und das Schöne, die Menschenrechte, die Grammatik, die Moral, der Staat, die Macht, die Sicherheit, das Geld, die Utopie. Das war dann wohl die Begegnung mit der philosophia perennis, von der alle großen Denker sprachen und über deren Wesen uns aber erst nach langer Zeit des Denkens, vor allen Dingen aber des Irrens und Wirrens und nachheriger Aufklärung des Irrtums, der zum nächsten Irrtum führt, ein Licht aufging. Aus der Unerschöpflichkeit philosophischer Fragestellungen ergab sich die Idee einer ewigen Bildung des menschlichen Geistes humanistischer Abkunft, aus der geistigen Erfahrung eines endlichen Studiums stieg wie eine Imago das unendliche Studium auf. Die Endlichkeit des Studiums nötigte zu Entscheidungen, zu Priorisierungen, Spezifizierungen und zahlreichen Umschiffungen, um die Oberfläche des blinden Bewunderns in die Sachlichkeit der Fachwelt zu verlassen, seine Unendlichkeit und Unabschließbarkeit wurde aber ebenso zur Erfahrung. Denn mit der Philosophie ist nicht fertig zu werden, sie macht einen fertig. Sie ist so groß, so weise, so weit und so lang, so tief und so schön, so zart und so licht, so kühl und so frei, dass sie uns alle zu Anfängern macht. Selbst als abgeklärte, terminologisch geschulte und philosophiegeschichtlich belesene Mitdenker, die stets in der Gefahr schweben, zu klug zu werden, um weise zu sein, waren unsere Essays, Hausarbeiten, Handmeldungen und mündlichen Prüfungen nicht mehr als ein Stammeln und ein Stottern vor ihrer großen Weisheit. Aber wir hatten ein Bewusstsein dafür entwickelt, was es heißt, an den Anfang zu gelangen und von ihm bis zu den letzten Fragen, die sich der Mensch stellt, zu latschen. Wir waren geschult darin, anzufangen, gewissermaßen große Anfänger. Was uns auf den Beinen hielt und anspornte, war die Suche der reinen Gegenwart oder in Nietzsches Worten dem großen Mittag. Alles menschliche Streben und das Streben nach Weisheit und Wissen ohnehin, mit dem doch alles begonnen hatte, bleibt diesem Ziel verpflichtet. Weise werden mag dennoch bedeuten, zwar das Streben zu bejahen oder es wenigstens (möglichst gelassen) hinzunehmen, das ursprüngliche Ziel dabei jedoch in produktiver Weise aus dem Auge zu verlieren. Denn das Streben will aus den Bedingungen des Bewusstseins immer ausbrechen, weil es ahnt, dass das Bewusstsein nur ein Abglanz, ein Vorspiel, eine Durchgangsstation sein kann auf dem Weg. Das Bewusstsein ist aber sprachliches Bewusstsein von den Dingen, die Gedanken sind eingekleidet in Worte und die Philosophie bedarf um jeden Preis der sprachlichen Darstellung. Die Philosophie will im gleichen Zug immer raus, ihre sprachliche Einkleidung abstreifen. Eine im Präteritum erzählte Geschichte der Philosophie ist nicht ihr natürliches Element, sie will ins reine Präsens vordringen, sie will wie Fichtes Wissenschaftslehre eine Live-Performance des Denkens und damit die erste Partitur des Seins erbringen. So drängt das Bewusstsein in philosophischer Liebe zum Sein immer in das Gegenteil seiner selbst, das, was nicht von den Bedingungen des Bewußtseins präformiert ist. Fortschreitende Selbsterkenntnis lässt uns ahnen, wie es außerhalb des Bewusstseins, jenseits der Sprache aussehen könnte. Der Weg dorthin ist gestaffelt mit den Begriffen der Philosophie: Substanz, Wahrnehmung, Idee, Erkenntnis, Subjekt, Objekt, das Absolute, das Unbewusste etc. An ihnen hält sie inne, hadert mit sich, vergewissert sich und stärkt sich für den weiteren Weg ins Offene. Der Begriff ist die Holzplanke, die sich das Denken über den Treibsand des Zweifels legt, um ihn zu überqueren, zugleich bildet er die größte Verlegenheit der Philosophie, weil sie weiß, dass sie anders als begrifflich nicht vermag, auf die andere Seite zu gelangen, obwohl sie sich immer gelobt hat, eine andere Sprache, ein anderes Instrument zu erlernen. Ihr Versprechen hat sie nie ganz einlösen können trotz aller Kritik am Begriff. Seit Nietzsche richtet sich das Denken gegen sich selbst und betreibt mit Adorno gesprochen einen rationalen Revisionsprozess gegen die Rationalität“. Es ging immer darum, auf andere Weise über den Treibsand ins Offene zu gelangen, zu den Dingen, zur Natur, zur Welt. Wie das gehen sollte, wussten wir am Ende unseres Studiums nicht, konnten aber die Versuche, es zu tun, beurteilen. Da es uns nicht, vielleicht niemandem gegeben ist, ein Schlusswort für die Philosophie zu schreiben, empfiehlt es sich, mit einem Wort zu schließen, das noch viele Wörter des Schlusses zulässt. Es stammt nicht von einem Denker, sondern von einem Dichter, dem Dichter schlechthin: Goethe. In seinen Maximen und Reflexionen“ schreibt er folgendes:

Ich bedauere die Menschen, welche von der Vergänglichkeit der Dinge viel Wesens machen und sich in Betrachtung irdischer Nichtigkeit verlieren. Sind wir ja eben deßhalb da, um das Vergängliche unvergänglich zu machen; das kann ja nur dadurch geschehen, wenn man beides zu schätzen weiß.

Diese Sentenz rücken wir weniger in die Nähe zur horazischen Rede vom erzenen Kunstwerk, das unberührt die Zeiten überdauert, wenngleich Goethes Klassizismus an der Antike Maß genommen hat, sondern sehen in ihr jene Dialektik von Augenblick und Ewigkeit vorgeprägt wie sie erst bei den Dichtern der Hochmoderne, bei Baudelaire und Benn zur vollen Entfaltung kommen sollte. Intellektuelle Redlichkeit, Nietzsches Kardinaltugend, verlangt uns weder blinde Polemik gegen das Unvergängliche und Vertiefung ins Vergängliche ab noch spekulativen Höhenflug durch einen überkommenen Ideenhimmel, der uns längst schwarz und gleichgültig anstarrt. Vielmehr gilt es wieder und weiterhin, die Beziehung zu fühlen, die das Endliche mit dem Unendlichen seit dem Auftritt der ersten denkenden Menschen auf der Weltbühne eingegangen ist und sei es im Allerkleinsten.

von BWG. Lektorat & Ergänzungen von JFMS


Date
January 28, 2024